Freddy - Fremde Orte - Blick
hatte es ihr nie gefehlt. Warum tat sie sich dann mit Madoka so schwer? Weil eine Morddrohung etwas war, was selbst sie nicht vergessen konnte?
Sie kam sich lächerlich vor, spießig und dumm. Sie war es gewohnt, auf die Nase zu fallen, weil sie sich zu viel zugemutet hatte, aber nicht, nachtragend und bockig zu sein.
„Wollen wir nicht ganz von vorne anfangen?“, fragte sie, als sie endlich die Kraft dazu gefunden hatte.
Madokas Gesichtsausdruck blieb kompliziert. „Und Artur?“, kam die Gegenfrage sofort.
Artur. Ja, richtig, so hieß ihr Problem. „Lassen wir ihm und uns etwas Zeit“, schlug Melanie vor. „Wenn wir beide miteinander nach Japan gehen, brauchen wir nicht aufeinander eifersüchtig zu sein. Da kann nichts passieren.“ Sie lächelte vorsichtig.
Die Japanerin öffnete die Schublade, in der sie vor einigen Minuten ihr Tagebuch untergebracht hatte. Sie öffnete es und legte es auf ihre Schenkel, schrieb ein paar Zeilen in den schönen Schriftzeichen ihrer Sprache. „Einverstanden“, sagte sie dann. „Machen wir beide zusammen eine Reise.“
„Was hast du geschrieben?“, wollte Melanie wissen.
Madoka senkte den Blick auf ihr Tagebuch. „Dass ich wohl nie mehr hierher zurückkehren werde.“
„Du hast Angst? Madoka Andô hat Angst?“
Sie antwortete geradeheraus, ohne Befangenheit. „Angst ist kein Fremdwort für mich. Es ist ein Risiko, über die Grenze zu gehen. Wahrscheinlich wird man mich dort festnehmen.“
Melanie schmunzelte. „Hör zu: Ich reise mit einer Frau, die mich mit bloßen Händen umbringen kann und die gedroht hat, es zu tun. Ich reise in ein Land, dessen Kultur, Gepflogenheit und Sprache ich nicht kenne. In Japan kann ich nicht einmal nach dem Weg fragen, ich kann vermutlich eine Karaoke-Bar nicht von einer Apotheke unterscheiden, und ich habe keine Ahnung, wie ich einem Taxifahrer oder einem Polizisten klarmachen soll, was ich von ihm will. Außerdem wartet dort jemand auf mich, der jeden Schritt, den ich mache, mitverfolgt, durch meine eigenen Augen hindurch, und der sich vermutlich jetzt schon auf meine Ankunft vorbereitet. Jemand, der mich nicht nur jeden Tag nackt sieht, sondern auch meine Schwächen und Spleens kennt, weiß, was ich mag und verabscheue, wohin meine Augen bei Menschen zuerst sehen, was ich tue, wenn ich mich unbeobachtet fühle. Ich weiß nicht, wie diese Person aussieht, ob sie männlich oder weiblich ist, alt oder jung. Jeder, der mir in Japan begegnet, könnte diese Person sein. Glaubst du, ich gehe mit der Reise ein kleineres Risiko ein als du?“
Madoka setzte zu einer Antwort an, und Melanie hätte es brennend interessiert, sie zu hören, doch sie wurde unterbrochen. Es klopfte kurz, die Tür ging auf. Isabel Holzapfel kam herein, ihre Zimmergenossin. Sie trug den obligatorischen Gothic-Look, eine verrückte Komposition aus Leder und schwarzem Samt. Ihre Stiefel waren schwer und hatten etwas Militärisches an sich. Obwohl Isabel ein Leichtgewicht war, klangen ihre schweren Schritte imposant.
„Melanie!“ Isabel war nicht nur erschrocken, sondern geradezu entsetzt, als sie die rothaarige Kommilitonin im Raum sitzen sah. Ihre Augen schienen aus den Höhlen fallen zu wollen, und eine tiefe Röte kämpfte sich unter der dichten Puderschicht auf ihrem Gesicht hervor.
„Ungewöhnlicher Besuch, ich weiß“, sagte Melanie peinlich berührt. „Nur raus damit, wenn ich störe. Keine Angst, wir sind ganz entspannt und schlagen uns nicht. Die Einrichtung ist nicht in Gefahr.“ Was sie eine Einrichtung nannte, war ohnehin kaum der Erwähnung wert. Auf Madokas Zimmerseite herrschte funktionale Leere. Da war nichts, was nicht unbedingt notwendig war, kein Bild, kein Erinnerungsstück. Isabels Wand zeigte einen großformatigen Kunstdruck mit einem schönen, blassen jungen Mann, der in einem Thron aus Totenschädeln saß. Er schien das kleine Bücherregal zu bewachen, in dem zwei Dutzend Romane unterschiedlicher Ausrichtung lagerten.
„Nein!“, beeilte sich Isabel zu sagen. „Du sollst nicht gehen! Ich …“
Die beiden Frauen sahen Isabel erwartungsvoll an, und diese schien mit der Vertrautheit nicht zurechtzukommen, die sie zwischen Melanie und Madoka entdeckte. So weit verständlich. Aber musste sie deswegen gleich so durcheinander sein? Ihr Blick jagte geradezu zwischen den beiden Frauen hin und her.
„Madoka, Melanie, es geht um …“ Sie schluckte hörbar einen dicken Kloß hinunter und setzte noch einmal neu an: „Ich wollte
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