Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
natürlich von deinem falschen Pass“, meinte Melanie und versuchte, das triumphierende Gefühl zurückzudrängen, endlich einmal die Oberhand zu haben. „Er lautet auf den Familiennamen Tanigawa. Aber du heißt Andô, und in Japan giltst du immer noch als vermisst. Deine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland ist gefälscht.“
    Madokas Mund wurde winzig klein. „Schön, dass alle darüber informiert sind.“
    „Man kann eben nicht alles geheim halten. Je mehr man sich dagegen wehrt, desto vehementer will es an die Oberfläche.“ Ganz wohl fühlte sie sich nicht, wenn sie ihr Gegenüber so in die Enge drängte. Im Grunde tat die Japanerin ihr mehr als nur ein bisschen leid. Madoka hatte es als hochbegabtes Kind nicht leicht gehabt, und das Schicksal wollte es, dass sie eine Hauptschuld am Freitod mehrerer junger Menschen auf sich lud, als sie unbefugterweise in die Privatklinik ihres Vaters eindrang und dort ein heikles Experiment unterbrach. Obwohl Madoka als Tochter eines namhaften Psychiaters ohne finanzielle Sorgen aufgewachsen war, konnte man ihr bisheriges Leben nur als verkorkst und unglücklich bezeichnen. Melanie schämte sich ein wenig dafür, die Geschichte zu kennen. Und nun benutzte sie sie sogar, um sie zu quälen. Das war nicht ihre Art. Aber nach allem, was geschehen war, griff sie gierig zu jeder Waffe, mit der sie die Unnahbarkeit und Kälte der Japanerin verletzen konnte.
    „Vielleicht hast du auch Geheimnisse, Melanie. Würdest du es begrüßen, wenn sie alle aufgedeckt würden?“
    Melanie zögerte mit der Antwort. „Ich glaube, dass jetzt ein guter Zeitpunkt dafür wäre. Ich wünsche mir Klarheit.“
    „Auch wenn du etwas Unangenehmes erfährst?“
    „Ich wüsste nicht, was unangenehmer sein könnte als das, was in den letzten Tagen auf mich eingestürmt ist.“
    Madoka streckte den Rücken. „Ich habe dich eine Spionin genannt“, sagte sie unnatürlich laut. Sie war niemand, der sich gerne und häufig entschuldigte, und es fiel ihr sichtlich schwer. „Das war unhöflich von mir. Nein, verletzend.“
    Melanie zuckte nur nervös mit dem Kopf.
    „Es war nicht deshalb unhöflich, weil es eine Lüge gewesen wäre“, sprach Madoka weiter. „Du bist eine Spionin. Aber du bist es nicht absichtlich. Jemand hält dich in der Hand, und du weißt nicht, wer es ist.“
    Melanie ballte die Fäuste. „Das ist nur zu wahr. Deshalb habe ich dich gebeten, mich nach Japan zu begleiten.“
    „Du wiederum hältst mich in der Hand. Ich stehe ganz unten in der Reihe der Abhängigkeiten.“
    „Inwiefern halte ich dich in der Hand?“
    „Du hast es eben selbst gesagt. Mein gefälschter Pass. Du gehst zu den Behörden und verrätst mich. Es wird höchstens ein paar Tage dauern, vielleicht nur ein paar Stunden, und ich bin von Falkengrund verschwunden … und aus deinem Leben, für immer. Ich halte mich illegal in diesem Land auf, Melanie. Ich bin voll und ganz deiner Gnade ausgeliefert – und der aller anderen, die es wissen.“
    Die Studentin atmete tief durch. Von dieser Seite aus hatte sie es noch nicht betrachtet. Es würde tatsächlich ein Kinderspiel sein, der Asiatin handfeste Schwierigkeiten zu bereiten. Wenn erst ein Madoka-freies Falkengrund geschaffen war, würde das Schloss nicht nur ein hellerer, fröhlicherer Ort werden, sie würde auch Artur endlich für sich alleine haben.
    „Ein verlockender Gedanke“, sagte Melanie. Dann senkte sich Schweigen über die beiden, und während Madoka ihr Gegenüber ansah, hatte Melanie den Blick auf den Fußboden gesenkt. Minutenlang sprachen sie nicht miteinander. Es war seltsam. Melanie hatte das Gefühl, dass sie sich in diesen Minuten mehr sagten, als sie es je zuvor getan hatten. Jetzt, wo keine Worte sie behinderten und verführten, wo es nicht darauf ankam, Stärke und Unverletzlichkeit zu demonstrieren, redeten ihre Herzen miteinander. Melanie empfand Mitleid mit Madoka, und mehr noch: Obwohl ihre Düsterheit ihr nach wie vor kalte Schauer über den Rücken jagte, glaubte sie sie allmählich zu verstehen. Melanie war Studentin auf Falkengrund geworden, um mehr über das unheimliche Erlebnis zu erfahren, das sie gehabt hatte, während sie klinisch tot war. Warum hatte sich Madoka hier eingeschrieben? Um ihren Schutzgeist zurückzugewinnen. Und vielleicht, um ihr misslungenes Leben neu zu beginnen.
    Neu beginnen , das war ein gutes Stichwort. Melanie war immer eine Frau für einen Neubeginn gewesen. Sie hatte nie am Alten gehangen. An Kühnheit

Weitere Kostenlose Bücher