Freddy - Fremde Orte - Blick
Zukunft anmutete. Fünf blinkende Automaten reihten sich aneinander – einer verkaufte Getränke, die anderen Reisbällchen, Sandwiches, Telefonkarten, Unterwäsche und pornografische Zeitschriften. Sie entschied sich für ein Käsesandwich, schlang es auf dem Weg zurück zum Zimmer hinunter, kehrte noch einmal zurück und holte sich einen Reisball, der in getrockneten Seetang gehüllt war und erstaunlich lecker schmeckte. Die Preise waren gesalzen, daher verzichtete sie auf eine Getränkedose und trank Leitungswasser. Es schmeckte nach Chlor und hinterließ ein merkwürdiges Gefühl in ihrem Mund, das sie so schnell nicht mehr loswurde. Sie lauschte auf den Verkehr vor dem Fenster, der auch nachts nicht zur Ruhe kam, und hoffte, dass er sie erneut in den Schlaf wiegen würde. Leider wurde daraus nichts. Der Jetlag setzte ihr zu, und sie lag wach bis zum Morgen.
5
„Gut geschlafen?“
„Ungebähr brei Fgunden, genke igg“, nuschelte Melanie mit der Zahnbürste zwischen den Zähnen und einem Mund voller Schaum. Sie hatte der anklopfenden Madoka die Tür geöffnet, ohne sie anzusehen. Das holte sie jetzt nach … und spuckte Zahnpastablasen in den Raum. „Oh Gobb!“
Melanie rannte in die Nasszelle, wobei sie sich in alter Slapstick-Manier erst einmal den Kopf an der niedrigen Türöffnung anschlug. Sie spülte den Mund aus, wischte sich den Mund ab und eilte zurück, um zu sehen, ob der Spuk noch vor ihrer Tür stand. In der Zwischenzeit hatte er sich aber ins Zimmer bewegt und fuhr sich mit grimmigem Blick durch die Haare.
Durch die kurzgeschorenen Stoppeln!
„Sag, dass du’s nicht bist“, brabbelte Melanie.
„So schlimm?“, erkundigte sich Madoka mit herabgezogenen Augenbrauen.
Nein, das war nicht Madoka! Madoka hatte lange, fast schwarze Haare, hinter denen sie sich verstecken konnte, die wie ein Schleier über ihr Gesicht hingen und ihr den Anschein einer lebenden Toten gaben. Diese Haare, die bis zu ihren Schultern reichten, waren ein fester Teil von ihr – Melanie hätte sich nie vorstellen können, wie Madoka ohne sie aussah.
Nun sah sie es.
Das Gesicht der Japanerin schien größer geworden zu sein, breiter vor allen Dingen. Ihre hohen, stark ausgeprägten Wangenknochen dominierten es. Obwohl sie noch immer sehr blass war, wirkte sie lebendiger.
„Es war unumgänglich“, erklärte sie. „Wenn wir meinen Vater suchen, werden wir früher oder später Menschen über den Weg laufen, die mich kennen. Ich hatte schon immer lange Haare – sie mussten runter.“
„Setz dich“, hauchte Melanie und bot ihr den einzigen Stuhl im Zimmer an, ohne den Blick von ihr nehmen zu können.
„Hast du schon gefrühstückt?“, wollte Madoka wissen. Es machte sie offensichtlich nervös, wie Melanie sie anstarrte.
„Die ganze Nacht hindurch. Der Automat am Ende des Korridors ist leer. Ich glaube, ich habe dreitausend Yen reingesteckt – fast mein ganzes Budget für den heutigen Tag.“
„Nicht schlecht! Dann werde ich das Frühstück auch auslassen und unterwegs etwas essen.“
„Wo gehen wir hin?“ Melanie sah auf die Uhr – es war nach acht.
„Zuerst zur Klinik meines Vaters. Wenn ich recht informiert bin, müsste das Haus jetzt leer stehen. Vielleicht finden wir dort eine Spur.“
6
Wenn Melanie sich die Preise in dieser Stadt so ansah, befürchtete sie, dass ihnen bald das Geld ausgehen würde. Nicht nur für Essen musste man ein kleines Vermögen hinblättern, auch die Verkehrsmittel schlugen zu Buche. Sie hatten beide ihre Sparkonten geplündert, um einen vierwöchigen Aufenthalt finanzieren zu können. Zusätzlich hatte Werner Hotten ihnen Mittel aus der Schulkasse bewilligt – diese 1500 Euro hatten gerade für die Flugtickets gereicht.
Falkengrund wurde aus einem Sammelfonds finanziert, in den mehrere anonyme Gönner einzahlten. Es gab viele Gerüchte darüber, welche Personen oder Organisationen die Schule stützten, doch Werner hatte jedem einzelnen von ihnen absolute Geheimhaltung zugesichert und rückte keine Informationen heraus. Aus dem Fond wurden die Dozenten entlohnt, die Verköstigung und Unterbringung der Studenten bezahlt, Lehrmaterialien angeschafft und alle anderen Ausgaben bestritten. Schon des Öfteren hatte Werner durchblicken lassen, dass die finanzielle Situation Falkengrunds angespannt war. Niemand wusste, was werden sollte, wenn die Schule eines Tages pleite war.
Ehe sie die Klinik von Dr. Andô aufsuchten, führte Madoka ihre Begleiterin zu ihrem
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