Freddy - Fremde Orte - Blick
Frage, wo der Stuhl her kam, beantwortete sich, wenn man den Blick nach oben richtete. In der Zimmerdecke gab es ein ovales Loch von etwa einem Meter Durchmesser. Über ihnen war ein Krankenzimmer, und sie erkannten ein Bett, das nur wenige Zentimeter von dem ausgefransten Rand des Lochs entfernt stand. Melanie sagte sich, die Wahrscheinlichkeit, dass es gerade jetzt herunterfallen würde, sei verschwindend gering. Doch auch das Bett hatte Rollen, und das machte es besonders bedrohlich.
„Die oberen Stockwerke müssen wir uns wohl abschminken“, meinte Madoka. „Durch die zersplitterten Scheiben sammeln sich während der Regenzeit und bei den Taifunen enorme Wassermengen im Inneren des Hauses. Die sorgen dafür, dass die Holzböden innerhalb weniger Jahre durchfaulen. Ein Wunder, dass der schwere Schreibtisch meines Vaters noch nicht durch den Fußboden in den Keller gefallen ist. Ich schätze, wenn das Bett von oben runterkommt, fährt hier alles einen Stock in Richtung Hölle.“
„Das hier war das Arbeitszimmer deines Vaters?“ Sie musste sich förmlich zwingen, den Blick von dem Loch in der Decke zu nehmen.
Madoka bückte sich und hob einen Bilderrahmen vom Boden auf. Er hatte wohl einmal auf dem Tisch gestanden. Das Glas war zerbrochen und das Foto dahinter aufgeweicht. Sie reichte es Melanie, und die machte irgendwo hinter den schwammigen, pilzigen Poren, die das Bild bekommen hatte, die Gesichter einer Frau und eines kleinen Mädchens aus. Das Mädchen erkannte sie sofort. Es war Madoka im Alter von fünf oder sechs Jahren. Schon damals hatte sie etwas Finsteres an sich gehabt. Die Frau sah ihr ein wenig ähnlich, strahlte jedoch mehr Lebensfreude aus, wirkte auf irgendeine verquere Weise kindlicher als das Kind.
„Deine Mutter?“, fragte die Deutsche.
Madoka nickte. Vorsichtig ging sie um den Schreibtisch herum. Sie öffnete das stattliche Büffet, das dahinter stand. Teetassen und Kannen stapelten sich darin. Nicht alle waren kaputt.
„Er ließ Besucher lange warten“, erläuterte sie. „Das tat er, um sie einzuschüchtern. Natürlich wusste er, wen er warten lassen durfte und wen nicht. Unter seinen Patienten waren Angehörige einflussreicher Familien. Er bekam fürstliche Geschenke.“ Mit beiden Händen hob sie eine Vase aus dem Regal, die sehr grob und schlicht wirkte. Melanie wusste nicht viel über die Philosophie der japanischen Keramik, aber sie hatte gehört, dass sie sich von der chinesischen stark unterschied und dass solche irgendwie unfertig wirkenden Werke als besonders reizvoll galten.
„Diese Vase hat einen Sprung. Wäre sie unversehrt, hätten wir wahrscheinlich einen großen Teil unseres Aufenthalts davon finanzieren können. Auch in diesem Zustand ist sie noch einige zehntausend Yen wert.“
„Und sie steht einfach so hier herum?“
„Japaner sind schlechte Plünderer“, entgegnete Madoka. „Sie tun so etwas einfach nicht.“
Sie setzte ihre Suche fort, indem sie die Schubladen des Schreibtisches öffnete. Aufgeweichte Bücher und Notizblöcke kamen zum Vorschein, Kalender und Dokumente. Das Wasser musste in die Schubladen eingedrungen sein und sich sehr lange Zeit darin gehalten haben. Die mit Füller und Filzstift gemachten Einträge waren hoffnungslos verloren, und auch die vereinzelten Bleistifteintragungen konnte man kaum entziffern. In der obersten rechten Schublade entdeckte Madoka eines dieser Visitenkarten-Alben, die Japaner gerne benutzten. Die Karten wurden dabei in kleine Fächer aus durchsichtigem Kunststoff gesteckt, ähnlich wie bei einem Fotoalbum. Da die Fächer direkt auf die Größe der Karten abgestimmt waren, ließen sie praktisch kein Wasser ein.
Madoka zeigte Melanie ihren Fund. Die Aufschriften der Karten waren für die Deutsche zwar unlesbar, doch das lag allein an den fremden Schriftzeichen. Aufgeweicht und verwischt waren sie nur an den Rändern.
„Wir sollten diesen Raum verlassen“, mahnte Madoka. Sie gingen den Flur ein Stück entlang, bis sie den Überwachungsraum mit den Monitoren erreichten. Selbst diese teure Technik hatte man zurückgelassen. Nur das Schaltpult hatte jemand aufgeschraubt – ob er etwas entnommen hatte, konnte Melanie nicht feststellen. Sie hatten die Klinik jetzt von der Rückseite her einmal durchquert und waren in der Nähe der Pforte angekommen. Durch die Tür drang helles Tageslicht, und da die Milchglasscheiben des Hauptportals nicht zerbrochen waren, konnten sie sich unmittelbar dahinter aufhalten, ohne
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