Freddy - Fremde Orte - Blick
und schaurig, dass er seine Schritte kurz verlangsamte.
Dann lief er los, hastete in die Finsternis hinein. Wenn man rannte, war die Dunkelheit viel weniger beunruhigend. Man hatte das Gefühl, was immer auch dort lauerte, es würde einen nicht erwischen. Wenn die Finsternis ein Vorhang war, dann wollte er so schnell wie möglich hindurch.
Die Häuser hörten auf, und ein paar Reisfelder schlossen sich an. So etwas gab es öfters, auch mitten in der Stadt. Keuchend lief Kôta über die schmalen Pfade. Es gab genügend Gruselgeschichten über die Wesen, die sich im schlammigen Wasser der Nassfelder versteckten, und Kôta hatte zu tun, die Erinnerung daran zu verdrängen. Seine Augen wollten Dinge sehen, die es nicht gab. Er war alt genug, um zu wissen, dass sie das manchmal taten. Aber er war noch nicht alt genug, um die Dinge deswegen nicht mehr zu sehen.
In den tieferliegenden Feldern zeichneten sich hagere Gestalten ab, meterlange dürre Arme, die sich langsam nach ihm streckten und ihn kriegen würden, wenn er nur einen Moment lang verschnaufte.
Eine Wand dunkler Häuser wuchs vor ihm empor, und zuerst fürchtete er, keinen Eingang zu finden, es mit einer geschlossenen Mauer zu tun zu haben. Doch dann tat sich eine schmale Pforte auf, eine dieser Gassen, die nur für Fußgänger und Fahrradfahrer zu passieren waren, links und rechts hohe Mauern. Einmal war Kôta in einer solchen Gasse von einem Rad angefahren worden. Das große Mädchen, das es lenkte, war mit halsbrecherischer Geschwindigkeit unterwegs gewesen und hatte weder bremsen noch ausweichen können.
Kôta lauschte auf Geräusche, die das Kommen eines Fahrrads angekündigt hätten. Stattdessen hörte er das Geklapper von Küchengeschirr aus den dünnwandigen Häusern, das Lärmen von Fernsehgeräten aus den Haushalten älterer, schwerhöriger Leute. Irgendwo übte jemand Klavier und blieb immer und immer wieder an derselben Stelle hängen.
Er rannte jetzt nicht mehr, ging langsam, fast wie jemand, der sich durch einen dunklen Dschungel kämpfte. Dunkel war es tatsächlich – das machten die Mauern, die die Gasse in Schwärze tauchten, auch wenn die dahinterliegenden Holzhäuser noch so hell beleuchtet waren. Japaner liebten Helligkeit in den Häusern. Sie pflegten auch Zimmer zu beleuchten, in denen sich niemand aufhielt. Doch nicht überall gab es Straßenlaternen. Gassen wie diese waren dunkle Löcher.
Das störte Kôta vor allem deshalb, weil er barfuß ging und von dem Weg nicht das Geringste zu erkennen war.
Die Gasse nahm kein Ende. Sie bog sich leicht, wie unbeabsichtigt, nach rechts. Entweder gab es keine Abzweigungen, oder er übersah sie. An einer Stelle ragte ein modernes sechsstöckiges Gebäude über die meist nur zweistöckigen Holzhäuser hinaus. In dem Licht, das aus den oberen Stockwerken in die Gasse fiel, blieb er stehen. Er konnte die Helligkeit beinahe auf der Haut spüren, so gut tat sie ihm.
War es Zeit, lauthals zu weinen zu beginnen? Er horchte in sich hinein, fragte sich, ob er überhaupt auf Kommando weinen konnte. Er hatte das Gefühl, alle Tränen würden versiegen, sobald er bewusst versuchte, sie fließen zu lassen.
In seinen Augenwinkeln tauchte etwas auf und verschwand wieder.
Sein Kopf ruckte herum. Eine matt beschienene Wand erhob sich neben ihm, anderthalb Meter hoch und fahlweiß. Dunkle Büsche wölbten sich vom Garten her über sie. Vielleicht hatten diese sich bewegt.
Wieder zeigte sich etwas Dunkles, diesmal an der gegenüberliegenden Wand – wieder im Augenwinkel. Er drehte sich und erhaschte noch einen Blick darauf. Es war ein Schatten, wie der eines hoch aufgeschossenen Erwachsenen. Doch der Kopf war größer, als trage er einen merkwürdigen Hut oder Helm …
Das Erschreckende war nicht, dass dieser Schatten da war, sondern dass er wieder verschwand, als hätte ihn jemand ausgeknipst. Im nächsten Moment tauchte er erneut auf, ein Stück weiter entfernt.
Kôta hatte nicht die Kraft zu fliehen. Er drückte sich gegen die Mauer, beobachtete das Geschehen weiter. Sein Mund stand offen, seine Augen blinzelten aufgeregt. Vom Boden aus schien eine fremdartige Kälte in seine nackten Füße zu strömen, als wäre dies nicht die Erde, sondern ein ferner, lebensfeindlicher Planet.
Plötzlich wimmelte es in der Gasse von den Schatten. Wie schwarze Höhlenzeichnungen erschienen sie an den Wänden, zuckten in einem unbeschreiblichen Getümmel durcheinander und prallten doch niemals zusammen. Ein leises,
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