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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Getränkedosen, der an der Seite des Automaten stand, quoll über. Einige Büchsen waren darauf gestapelt, andere standen daneben auf dem Boden, alle sauber aufgetürmt, keine davon umgekippt oder gar zerdrückt.
    Er hatte diese Gasse schon tausend Mal gesehen, auch in der Dämmerung, und doch fragte er sich jetzt, ob er tatsächlich hier wohnte. War dieses dunkle, verschlossene Haus seine Heimat? Ausgesperrt war er, ausgestoßen aus der Familie, weil er seine Hausaufgaben nicht bis sechs Uhr fertiggestellt hatte, wie die Abmachung lautete. Diese Art von Strafe hatte er selten erfahren, zum letzten Mal vor fast einem Jahr, und damals hatte seine Mutter ihm versprochen, es nie wieder zu tun, weil er anschließend eine Woche mit Fieber und Erbrechen im Bett gelegen hatte. Er hatte sich nicht erkältet und auch nichts Falsches gegessen – es war einfach die Angst gewesen, die seinen Körper zum Glühen gebracht und seinen Magen dazu veranlasst hatte, nichts mehr bei sich zu behalten.
    Kôta war acht, ein kleingewachsener, etwas dicklicher Junge mit einer Bürstenfrisur. Er löste sich von der Tür und ging ums Haus. Natürlich hatte sie alle Fenster geschlossen, und die Hintertür war sowieso die meiste Zeit über verriegelt. Durch die Scheiben betrachtete er das Innere des Hauses. Sein Zimmer, wo die Playstation noch lief und auf dem Fernseher eine Szene des Jump & Run-Spiels eingefroren war, bei dem er die Zeit vergessen hatte. Das Spiel kam ihm nun dumm und reizlos vor – Kisten stapeln, Bananen pflücken, Kugeln rollen. Wie hatte er zwei Stunden davor sitzen können? Er lief zum nächsten Fenster, sah das Wohnzimmer, leer und im Dunkeln, und dahinter die kleine Küche, wo seine Mutter das Essen vorbereitete. Natürlich wandte sie ihm den Rücken zu. Der Geruch der Zwiebeln, die sie schnitt, drang bis zu ihm heraus. Heute würde es Yakiniku geben, das koreanische Gericht, bei dem man hauchzarte Fleischscheiben und frisches Gemüse auf einer heißen Platte brutzelte, die direkt auf dem Tisch stand. Ein Festessen. Seine Eltern hatten den neunten Hochzeitstag.
    Ihm war danach, die Scheiben einzuschlagen, doch das würde alles nur viel schlimmer machen, also klopfte er nur dagegen. „Ich werde draußen auf der Landstraße unter einen Laster kommen und sterben!“, rief er. Es war ihm ernst. Irgendwie verspürte er Lust, bis an den Ortsrand zu laufen und so lange auf dem weißen Mittelstreifen durch die Dämmerung zu rennen, bis ihn eines der blitzenden, blinkenden Ungetüme erwischte. Japanische Trucks spiegelten und leuchteten beinahe so grell wie die Fahrgeschäfte auf dem Rummel. Ihre Fahrer liebten, es die tiefen, melodischen Hupen zu drücken. Aber sie liebten es auch, schnell und riskant über die kurvigen Straßen zu jagen. Früher oder später würde ihn einer dieser blankpolierten Kühler aus Chrom schon erwischen.
    Seine Mutter drehte sich nicht um. Er wusste, dass sie ihn hörte. Sie hörte ja sonst sogar Vater, wenn er vor der Haustür nur leise „Ich bin zurück“ sagte.
    Natürlich konnte er warten, bis Vater nach Hause kam. Normalerweise kam er nicht vor Acht, heute würde es sicher eine halbe Stunde oder Stunde früher werden. Aber Kôta fürchtete sich davor, dass Vater ebenfalls hart bleiben würde. Vater war sehr darauf bedacht, Mutters Erziehung nicht zu unterlaufen.
    Kôta fällte eine Entscheidung: Er würde es nicht ertragen, seinen Eltern von hier draußen beim Festessen zuzusehen. Wenn sie dabei traurig blickten, würde er es nicht ertragen, und wenn sie glücklich aussahen ohne ihn, dann noch viel weniger. Das Haus wurde ihm von Minute zu Minute fremder, die Möbel, die Zeitschriften, die herumlagen, alles. Wahrscheinlich würde er nicht einmal das Gesicht seiner Mutter mehr wiedererkennen, wenn sie sich zu ihm umdrehte, um die geschnittenen Lebensmittel ins Wohnzimmer zu tragen.
    Es war besser, jetzt sofort zu gehen, ehe so etwas Grauenvolles geschah.
    Er sah an sich herab. Er trug noch seine Hausschuhe – seine Mutter hatte ihm nicht einmal erlaubt, seine Straßenschuhe anzuziehen. Ein Unding. Als er neulich einmal in Pantoffeln einen einzigen Schritt in den Garten hinaus gemacht hatte, um sich nach dem Postpaket zu recken, das der Briefträger dort abgestellt hatte, hatte es ein Donnerwetter gegeben!
    Außer einer Jogginghose und einem T-Shirt trug er nichts am Leib. Diesmal würde er sich vielleicht wirklich erkälten.
    Natürlich spielte das keine Rolle mehr, wenn er von einem Laster

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