Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
erfasst wurde.
    Kôta ging durch die Gartenpforte hinaus. Er betrachtete sich die sauber gestutzten Hecken noch einmal. Hier hatte er bis vor fünf Minuten gewohnt? Warum war ihm nie aufgefallen, wie gleichförmig und seelenlos das alles aussah? Falls er je in diese Gasse zurückkehren würde, wie sollte er das Haus wiederfinden?
    Der alte Mann von gegenüber sah aus dem Fenster. Seine Miene war weder einladend noch abweisend, die Augen über den weit herabhängenden Tränensäcken blickten einfach nur neugierig, schaulustig. Möglicherweise hätte Kôta bei ihm Unterschlupf finden können. Aber er wollte nicht. Er wollte weg von hier, seine Mutter für das bezahlen lassen, was sie ihm antat.
    Er ging mit gesenktem Kopf an dem Getränkeautomaten vorbei, sah in die blendende Auslage, wo die Limonaden-, Tee- und Kaffeesorten bereitstanden. Ein blauer Balken zeigte an, welche Getränke gekühlt wurden, ein roter Balken wies auf heiße Getränke hin. Als er in seiner Jogginghose kramte, fand er eine Sammelkarte, die er irgendwann hineingesteckt hatte, aber kein Geld. Er rannte ein Stück, bog in eine größere Straße ein und ging dort wieder langsamer. Hier gab es einige Passanten, und es war nicht gut, wenn man gleich vor seiner Haustür auf ihn aufmerksam wurde. Aus diesem Grund zog er auch seine Pantoffeln aus und legte sie neben einen Papierkorb. Kein Mensch lief im Freien in flauschigen Stoffpantoffeln herum. Seiner Meinung nach war es weniger unnatürlich, barfuß zu gehen. Auch wenn er sich nicht entsinnen konnte, wann er zum letzten Mal jemanden ohne Schuhe in der Stadt gesehen hatte.
    Der Verkehr floss aus der Stadt hinaus, und er war versucht, sich ihm anzuschließen, mit den Autos zu gehen. Doch dann begann er sich zu fürchten. Wenn man genau hinsah, konnte man sehen, wie die Abstände zwischen den Laternen dort draußen allmählich größer wurden, auch Läden gab es dort weniger, nur Fabriken, bei denen meistenteils schon die Lichter gelöscht waren. Eine große Dunkelheit braute sich in dieser Richtung zusammen, irgendwo hinter den letzten Häusern, und der Junge wusste auf einmal, dass er dort nicht hinwollte. Die Tränen in seinen Augen versiegten und kamen wieder, im Wechsel von einigen Minuten, und seine Kehle schmerzte vom Weinen. Diese vielen Wechsel reinigten seinen Geist und machten ihn vernünftiger. Er beschloss, nicht zu sterben. Er beschloss auch, stadteinwärts zu gehen, aber nicht auf den großen Straßen, sondern auf den kleinen Nebenwegen. Die waren zwar auch dunkel, aber fast überall fiel gedämpftes Licht aus den Häusern ins Freie und machte die Finsternis erträglich. Außerdem wollte er sich verlaufen. Das war ein bisschen wie Tod, aber weniger endgültig. Die große Straße führte fast kerzengerade viele Kilometer weit bis ins Herz von Tôkyô hinein. Solange er sich an sie hielt, konnte er jederzeit umkehren – und das wollte er nicht.
    Wenn er sich schon nicht von den Lastern überrollen ließ, dann wollte er wenigstens irgendwo in einem Hinterhof weit weg von Zuhause enden, wo er nachts um zwei Uhr so laut weinen würde, dass die Anwohner gar nicht anders konnten als die Polizei zu rufen.
    Die Gassen wurden zusehends kleiner. Er lief eine Zeitlang im Zickzack, indem er an jeder Kreuzung abwechselnd links oder rechts ging. Nach einer Weile durchquerte er ein Kneipenviertel. Die roten Lampions vor den niedrigen Trinkstuben lockten durstige Seelen an. Zu dieser Stunde waren noch Lieferwagen unterwegs – das Tagesgeschäft begann hier erst. Eine junge Frau, die Männern beim Entladen von Bierkisten zugesehen hatte, rief ihm etwas nach und ging in ihren Stöckelschuhen ein paar Schritte hinter ihm her, doch er rannte los und hatte sie bald abgehängt. Aus den Restaurants und Wohnhäusern drangen verlockende Gerüche: japanischer frittierter Fisch, chinesische Soßen, der stumpfe, aber hungrig machende Duft von gekochtem Reis, würzige Currysoßen ... sein Magen knurrte, und er wünschte sich, er hätte seine Hausaufgaben rechtzeitig gemacht. Dann hätte er jetzt bei seiner Mutter in der Küche naschen können.
    Wieder kam er an den obligatorischen Getränkeautomaten vorbei – gleich drei von ihnen standen nebeneinander wie unterschiedliche Tore in den Himmel. Kleine rote Punkte signalisierten die Verfügbarkeit der vielen verschiedenen Getränke, deren Dosen und Flaschen bunt auf den Ebenen der Automaten standen. Jenseits der Geräte herrschte Dunkelheit, so überraschend dicht

Weitere Kostenlose Bücher