Freddy - Fremde Orte - Blick
beinahe elektrisches Knacken begleitete ihre Bewegungen – nur, dass es keine Bewegungen waren! Sie standen immer still, solange sie zu sehen waren. Kôta musste an Zeichentrickfilme denken, an Animes.
Er sah nun, dass sie in eines der Häuser strömten. Nicht alle verschwanden darin, ein paar blieben noch in der Gasse zurück. Doch als sich ihre Reihen lichteten, war es ein Signal für Kôta, die Flucht zu ergreifen. Er lief los, in die Richtung, aus der er gekommen war, in die Dunkelheit hinein, wo er nicht sehen konnte, ob sich Tausende von ihnen dort aufhielten oder kein einziger.
3
Melanie wusste nicht, was die nächste Station ihrer Suche war. Die Szene in der Garküche hatte sie schockiert, und für eine Weile sah sie sich außerstande, mit Madoka ein Gespräch zu führen. Mit der U-Bahn fuhren sie einmal quer durch Tôkyô, und die ganze Zeit über musterte Melanie die anderen Fahrgäste, vor allem die älteren unter ihnen, und fragte sich, was für eine Einstellung sie zu dem haben mochten, was im Zweiten Weltkrieg geschehen war. Japan hatte wie Deutschland den Krieg verloren, ein imperialistisches Regime war hart in seine Schranken gewiesen worden. Träumten diese Menschen noch immer von einer japanisch-deutsch-italienischen Weltherrschaft? Wie wurde das Thema in den Schulbüchern behandelt? Erfuhren die Kinder, was Japan in Asien angerichtet hatte, in China, Taiwan und Korea etwa? Hatten sie schon einmal von dem Massaker von Nanking gehört, oder hatte sich ein ganzes Volk den geschichtlichen Wahrheiten verschlossen, wie es in Deutschland einige Gruppierungen taten?
Melanie entdeckte neue Seiten an sich. Sie entdeckte, dass sie furchtsam und ängstlich sein konnte. Sie hatte nicht den Mut, Madoka mit all ihren Fragen zu konfrontieren, aus Angst, ihre Befürchtungen könnten bestätigt werden. Vielleicht war sie nur tapfer, wenn es um ihr eigenes Schicksal ging. Vielleicht war das, was sie für Courage hielt, nur eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber ihrem eigenen persönlichen Leben. Bedrohungen von größerem Ausmaß konnten offenbar selbst ihr Angst einjagen. Sie fürchtete ihren eigenen Tod nicht sehr, wohl aber fürchtete sie, das Chaos und das Böse könne die Welt beherrschen, das Gute und die Hoffnung auslöschen.
Dass sie in einer kleinen Gaststätte fröhlich lächelnd mit dem Nazigruß geehrt worden war, passte auf irgendeine vertrackte Weise zu dem, was ihr sonst noch Sorgen bereitete: die Dämonen, von denen Madoka gesprochen hatte. Sie hielt sich für stark genug, einer tödlichen Gefahr mit Fassung ins Auge zu sehen, aber sie war nicht sicher, ob eine Begegnung mit dem ultimativen Bösen sie nicht so tief erschüttern würde, dass sie innerhalb einer einzigen Sekunde alles einbüßte, was ihr so viel Kraft gab.
An die Hölle musste sie auch denken, als sie auf die schwarzverkohlten Überreste dessen blickte, was einmal ein Wohnhaus gewesen war.
Madoka hatte als nächsten Anlaufpunkt den Schauplatz des Brandes gewählt, von dem Sasuke Miura erzählt hatte: Das Haus der Takases. Es war beinahe vollständig dem Erdboden gleichgemacht. Der bittere Geruch eines gelöschten Feuers lag noch in der Luft. Dicke Balkenstümpfe ragten wie abgetrennte Gliedmaßen aus der Erde, und jeder leichte Windstoß wühlte in der Asche, ließ trockene graue Wolken über der Brandstelle aufsteigen, als wäre hier nicht alles tot, als lebte noch etwas unter der Ruine – ein unaussprechliches Monstrum, ein Dämon, der wirkliche Fädenzieher des Unglücks, der träge am Ort des Geschehens geblieben war, um den Nachhall der Katastrophe zu genießen, die Trauer und den Schrecken zu verdauen.
Doch auch wenn man solche Fantasien nicht bemühte, hatte der Schauplatz etwas Fremdartiges an sich. Es waren die gewaltigen Geräte, die umgekippt in der Mitte des Grundrisses standen, schwarz vom Ruß. Das größte davon hatte eine Breite von drei Metern. Ein abgerissener Kabelstrang ragte aus seiner Seite, und das Feuer hatte die Knöpfe und Regler auf der Konsole zu einer schwarzen Kraterlandschaft verschmolzen. Fußspuren rings um die Apparatur zeigten, dass viele Menschen sie sich aus der Nähe betrachtet hatten, Schaulustige vielleicht. Oder die Feuerwehrleute hatten versucht, das Ding zu bergen, waren jedoch an seinem Gewicht gescheitert. Vermutlich würde man einen Kran brauchen, um es zu bewegen. Ob jemand jemals sein Geheimnis enträtseln würde? Die Standbeine des Geräts hatten sich tief in die Erde gebohrt
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