Freddy - Fremde Orte - Blick
Widerstrebend wandte sie sich dem Mann zu, der sie grinsend ansah. „Yes, I am from Germany“, beantwortete sie seine Frage langsam und deutlich. Sie hoffte inständig, dass es kein langes Gespräch werden würde. Sie war ein kommunikativer Mensch, hatte aber in diesem Moment andere Dinge im Kopf als interkulturellen Smalltalk.
Unvermittelt schlug der Mann die Hacken zusammen und riss seine rechte Hand in die Höhe. „Heil Hitler!“, rief er und strahlte dabei übers ganze Gesicht. Das Ehepaar hinter dem Tresen, das den Laden bewirtschaftete, tat es ihm gleich, und als letzter fiel der Gast ein, der noch immer in der hintersten Ecke saß. Vierfach wurde ihr der Nazigruß präsentiert, vierfach standen dahinter lachende Gesichter.
Melanie sprang vom Stuhl auf. Hitze wallte in ihr auf.
„Beruhige dich“, sagte Madoka eindringlich. „Setz dich wieder hin!“
„Entschuldige, aber ich lasse mich nicht auf diese Weise beschimpfen.“
„Sie beschimpfen dich nicht“, erklärte die Japanerin. „Sie wollen nur nett zu dir sein, dir Respekt erweisen.“
Melanie hörte nicht darauf. Sie schob den Mann zur Seite und verließ die Gaststätte mit schnellen, festen Schritten. Draußen lief sie ein Stück und blieb dann stehen. Wartete, bis ihr Zorn verraucht war.
Und wartete, bis Madoka eine Minute später den Laden verlassen hatte und zu ihr stieß.
„Du hast sie beleidigt“, sagte sie nicht ohne Tadel in der Stimme. „Sie haben deinetwegen das Gesicht verloren. Ich habe mich für dich entschuldigt, aber es wäre besser, du würdest selbst noch einmal hineingehen.“
„Gehen wir deinen Vater suchen“, murmelte Melanie nur.
2
Der kleine Junge warf sich gegen die Tür. Das Klacken des Schlosses kam einen Moment später. Er hatte es schon vorausgeahnt, und umso grausamer klang es.
„Ich gehe weg“, brüllte Kôta. Seine Stimme vollzog den Übergang vom Schreien zum Weinen ganz plötzlich, mitten im Wort. Seine Hände hämmerten nicht gegen die Holztür, die seine Mutter eben vor ihm verschlossen hatte, sondern fuhren in kleinen Kreisen darüber, als wollten sie das Haus streicheln. Und damit die Mutter versöhnen, die sie nicht mehr erreichen konnten.
„Das ist mir egal“, kam die Antwort durch die Ritzen. „Du kannst tun und lassen, was du willst.“ Links, wo sich der oxydierte Messingknauf befand, war der Zwischenraum am größten, und Kôta konnte in die erleuchtete Diele hinein sehen. Alles war da – er brauchte seinen Blickwinkel nur ein wenig zu verschieben, und schon glitt das vertraute Bild durch das Sichtfeld, jedoch immer nur ein schmaler, fremdartiger Streifen davon: Die heruntergetretenen Schuhe seiner Mutter vor der Schwelle, seine eigenen Turnschuhe mit den Schweißflecken daneben, die Schränkchen auf beiden Seiten, viel zu wuchtig für den kleinen Raum – der gelbe Regenschirm, den seine Mutter stets in die Ecke zwischen Wand und Schuhschrank stellte, und die leeren Plastiktüten vom Supermarkt, die sie an die Speichen des Schirms hängte. Eine schlechte Angewohnheit, wie sie selbst zugab, ohne sie zu ändern.
„Ich gehe aus der Stadt hinaus, über die Landstraßen“, heulte er. „Wo mich niemand findet. Nicht einmal die Polizei!“ Die Lautstärke seiner Worte stieg und fiel, und die Färbung seiner Stimme schwankte innerhalb eines Satzes zwischen Zorn, Reue und Verzweiflung.
„Die Polizei hat wichtigere Dinge zu tun als nach ungezogenen kleinen Jungen zu suchen“, erwiderte seine Mutter prompt. Warum klang sie so kalt? Er versuchte sie zu sehen, mit den Augen festzuhalten, doch jetzt huschte sie als verwaschener Schatten von der Tür weg in die Diele hinein, so schnell, dass sie verschwunden war, ehe er ihr mit den Blicken hatte folgen können. Er hatte ihr Gesicht sehen wollen, hatte um alles in der Welt wissen wollen, ob sie so ungerührt aussah, wie sie sich anhörte. Sie hatte ihm keine Chance gelassen.
Kôta legte seine Wange an das Holz und weinte. Hinter ihm schloss jemand ein Fenster. Die Nachbarn, die den Lärm, den er machte, nicht hören wollten. Dadurch wurde es ein wenig dunkler in der Gasse. Eine winzige alte Frau, die ihren Hund spazieren führte, ging vorüber, mit erstaunlich schnellen Schritten, hüpfend beinahe. Die Augen des Hundes blitzten gelb. War es schon so finster? Die Dämmerung war früh hereingebrochen, der Getränkeautomat ganz am Ende der Gasse schickte sein grelles bläuliches Licht auf die Straße. Der eckige Eimer für die leeren
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