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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Verbeugung begrüßt und nicht mit einer sechzig Jahre alten deutschen Geste, sonst kann ich für nichts garantieren …“

4
    Takase grüßte überhaupt nicht.
    Ein blasser Mann mit strähnigen, an den großen Kopf geklatschten Haaren und mattem Blick, vorzeitig gealtert, ein fleischiges Gesicht, das, von tiefen Furchen getrennt, in mehrere unzusammenhängende Teile zu zerfallen schien, gebeugte Haltung, kaum in der Lage, aufrecht zu sitzen – das war Takase. Sein Blick war ins Leere gerichtet, streifte die beiden Besucherinnen nicht einmal. Der Alkohol hatte ihn vernichtet und war im Begriff, ihm den letzten Rest zu geben. Selten hatte Melanie einem Menschen so deutlich angesehen, dass er nur noch Wochen oder Monate zu leben hatte. An seinem Kinn und Hals klebten weiße Pflaster, und sein weit geöffneter, schlaff an ihm hängender Hauskimono entblößte Bandagen um Brust, Schultern und Arme. Seine Frau, die auf unsicheren Beinen ruhelos in dem kleinen Zimmer umherhumpelte, trug ähnliche Verbände. Bei ihr verschwand sogar ein Teil des Gesichts darunter. Die Verbrennungen.
    Madoka hatte Anstand bewiesen und zwei Gastgeschenke gekauft – ein seidenes Taschentuch und eine Schachtel französisches Gebäck. Beides war sündhaft teuer gewesen, doch Madoka erklärte, dass man besser nichts mitbrachte als etwas zu Billiges. Melanie wollte nicht recht einsehen, was die beiden getan hatten, um sich Geschenke zu verdienen, aber sie schluckte ihren Protest hinunter. Wahrscheinlich würde sie noch so manches hinunterschlucken müssen, solange sie in diesem Land weilte.
    Frau Takase hatte die Geschenke auf dem Boden kniend mit einer tiefen Verbeugung entgegengenommen. Als sie sie auf eine Ablage stellen wollte, fielen sie ihr aus der Hand. Die beiden bewohnten ein winziges Hinterzimmer im Haus von Frau Takases Bruder. Der Bruder und dessen Ehefrau waren finstere, heimliche Gestalten, die die Fremden zunächst nicht einlassen wollten.
    Über dem ganzen Haushalt schien eine Aura der Trostlosigkeit zu hängen wie ein dunkles Tuch. Man wollte nicht reden. Takase umklammerte ein Glas mit teurem, schottischem Whisky, als sei es das einzige, was ihn noch am Leben hielt. Seine Frau konnte nicht stillsitzen, kroch und stolperte durch den Raum und eckte dabei an den spärlichen Einrichtungsgegenständen an. Sie trug ein silbernes Schmuckstück an einer langen, feinen Kette um den Hals – ein Medaillon. Es pendelte hin und her, wenn sie gebeugt umherging. Immer wieder griff sie danach, rieb mit den Fingern darüber.
    Die Wandschränke schlossen nicht völlig und gaben den Blick auf unordentlich zusammengelegtes, schimmlig riechendes Bettzeug frei. Die Tatami-Matten waren dunkel von Schmutz, die Möbel hätten auf den Sperrmüll gehört. Frau Takases Miene war es anzusehen, wie sehr sie diesen Ort missbilligte – und wie sehr sie doch andererseits auf diese Zuflucht angewiesen war.
    „Erinnern Sie sich, wie es zu dem Unfall kam?“, fragte Madoka. Sie und Melanie hatten auf dem Boden vor einem kleinen Tischchen platzgenommen. Tee war ihnen keiner angeboten worden, dafür hatte Frau Takase die mitgebrachte Schachtel aufgerissen und lieblos vor sie hingestellt. Die meisten Kekse waren zerbrochen, als ihr die Box aus der Hand gefallen war.
    „Wer sind Sie?“, wollte die Frau wissen.
    Madoka hatte es ihr schon einmal gesagt, als sie das Zimmer betreten hatte. Geduldig wiederholte sie sich: „Wir sind Bekannte von Dr. Andô.“ Dass sie seine Tochter war, konnte sie natürlich nicht preisgeben. „Wir suchen ihn, und es ist dringend.“
    „Dann gehen Sie zu diesem Miura“, erwiderte Frau Takase schroff.
    „Miura-san weiß nicht, wo der Doktor sich befindet. Ihr Mann war der Letzte, der ihn gesehen hat.“
    Die Frau schnaufte. „Der Doktor ist gar kein richtiger Doktor“, sagte sie. „Er hat seine Lizenz verloren. Und Miura ist ein selbstsüchtiges Ungeheuer. Er hat meinem Mann so vieles zu verdanken, und denken Sie, dass er uns etwas von seinem Geld abgibt? Dass wir unser Haus verloren haben, ist letztlich auch seine Schuld. Wo sollen wir jetzt leben? Wir werden noch auf der Straße enden. Wir sind einfache Leute. Er hat meinem Mann nie genug bezahlt.“
    Madoka übersetzte für Melanie, und diese beobachtete Takase dabei, wie er ein halbes Glas Whisky in einem einzigen Zug leerte. Vielleicht war Miura ja geizig. Aber die Tatsache, dass Takase eine Menge Geld in teure ausländische Spirituosen investierte, war ebenfalls nicht

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