Frederikes Hoellenfahrt
nichts. Nur immer die Bilder in ihrem Kopf. Bilder, die sie nicht losließen. Sie wusste nicht, ob sie stöhnte, weinte oder schrie. Sie wusste nichts. Nur immer die Bilder. Die Bilder.
Frederike saß eingeklemmt zwischen Getränkekasten und Pistole und traute sich nicht die kleinste Bewegung. Ihre Zunge fühlte in die Zahnlücke hinein, die ihr die Gangster geschlagen hatten. Sie schloss die Augen. Sie hatte mehrmals versucht, Schlaf zu finden, aber die Angst um Bruno, die Angst ums eigene Leben verhinderten jede Sekunde der Ruhe.
Aber die Bilder: Sie sah immer wieder die zwei Masken hereinstürmen, sah den Lauf der Pistole, sah das Loch größer und größer werden. Es wird sie verschlingen, dachte sie. Sie hatte von schwarzen Löchern gehört. Man verschwand dort und tauchte nie wieder auf. Das Loch zwischen den Zähnen schien auch immer größer zu werden. Hatte sie zwei, drei Zähne verloren?
Aber die Bilder: Sie sah Bruno. Sie sah Bruno in seiner Blutlache. Sie sah Bruno, wie er mit Blumen vor dem Waschsalon stand. Wie ein Pennäler beim ersten Rendezvous. Genauso hatte sich Bruno auch damals benommen. Als sei er nicht fünfundfünfzig, sondern fünfzehneinhalb. Sie sah sich mit ihm in der Sächsischen Schweiz, im Ostsee-Urlaub auf Rügen. Links von mir, rechts von mir, überall sind hübsche Mädchen hier. Und sie hatte den alten Schlager weitergesungen. Links von mir, rechts von mir, sind auch nette junge Männer hier. Sie hatten gelacht und sich in die Binzer Wellen geworfen. Jetzt lebte Bruno nicht mehr. Sie sah sein Blut auf den Asphalt rinnen. Sie hatte ihm nicht helfen können. Sie wusste: Bruno war tot.
Aber die Bilder: Isabell rutschte an der Tür des Waschsalons in sich zusammen. Auch sie war gestorben. Erschossen. Frederike würde nie wieder ihr eigenes Café betreten. Nie wieder! Den Waschsalon gab es für sie nicht mehr. Sie hatten ihr alles genommen. Gut, noch nicht alles. Aber was war ihr denn ihr Leben noch wert? Die Lücke zwischen den Zähnen, sie roch die Pistole neben ihrem Kopf. Superman lachte, als sie ihn ansah, und bleckte sein blendend-weißes Gebiss.
»Wenn’s beliebt, können Sie schlafen. Wir werden noch länger fahren.«
Die Autobahn zeigte endlos Beton. Ihr Vater hatte anno Sechsunddreißig dran mitgebaut, froh, überhaupt Arbeit zu haben. Kaum zwanzig war der damals gewesen. Und er hatte Ende der Sechziger wieder dran mitgebaggert als Bauarbeiter des Volkes. Sie konnte sich erinnern, dass ihr Vater 1970 bei der Eröffnung der Strecke Leipzig-Grimma dabei war. Als verdienter Genosse. Als einer, der an die Ideale des Kommunismus noch glaubte. Frederike glaubte an nichts mehr. Nur an den eigenen Tod.
Aber die Bilder: Sie sah sich in Kellern verstecken, sie sah sich an der Hand der Mutter fliehen. Vater war im Kriege. Ihn hatte sie erst viel später kennengelernt. Sie hatte die brennenden Häuser gesehen. Sie hatte die brennenden Menschen gesehen. Und sie waren endlos gerannt, gelaufen, gefahren. Weg von Leipzig. Frederike sah sich beim Bezirksjugendobjekt Große Wische graben. Ihre Zeiten in der Hotellerie Rostock, Johnsdorf, Bad Düben. Sie werden platziert! Sie hatte es nie lang an einem Ort ausgehalten, war vielleicht ihr Leben lang auf der Flucht. Und diese Fahrt jetzt war der Abschluss der Reise. Das Ende des Films. The End. Finis. Konez. Danach kam nichts mehr, außer Himmel und Hölle.
Aber die Bilder: Kinderspiele. Himmel und Hölle. Leben und Tod. Sie hatten Huppekästchen auf die Straße gemalt. Sie hatten die Steine geworfen und waren in die Quadrate gehüpft. Ene, mene, muh und raus bist du! Raus bist du noch lange nicht … Sie sah sich in Kellern und hinter Bäumen verstecken. Sie dachte an Heinz-Dieter, den Spielkameraden, den nach dem Kriege ein Blindgänger zerfetzte. Sie lebte noch. Raus bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist. Sie konnte zählen, aber ihr Alter würde wahrscheinlich nicht reichen. Und die Sekunden verrinnen wie endlose Stunden! sang Vicky Leandros.
Die Töne: Sie hörte sie wieder. Schlaf, Kindchen, schlaf. Dein Vater ist ein Schaf. Deine Mutter ist in Pommerland. Pommerland ist abgebrannt. Schlaf, Kindchen, schlaf. Das Alexandrow-Ensemble auf dem Berliner Gendarmenmarkt. Kaiin, kakalin, kakalin, kakala. Kaiin, kakalin, kakalin, kakala. Sie tanzten Kasatschok und sangen im hohen Tenor. Sah ain Knab ain Rösslain stähn, Rösslain auf der Chaiden. Elvis schwenkte seine Hüften . Love me tender, love me sweet. Bau auf, bau
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