Frederikes Hoellenfahrt
die Pistole war auf ihn gerichtet. Aber die Augen blickten, ohne etwas zu sehen. Sein Beifahrer griff ihm nicht ins Lenkrad. Er war in Gedanken. Das war seine Chance. Vielleicht seine einzige Chance!
Kain steuerte plötzlich auf eines der leeren Kontrollhäuschen zu. Früher hatte man Pass oder Ausweis hereinreichen müssen. Der Beamte hatte einen gemustert, als wäre man ein entwichener Sträfling. Jetzt waren die Scheiben verdreckt. Das Metall war gesprungen und hing herunter. Keiner würde hier auf den Alarmknopf drücken. Kain fuhr drauf zu.
Frederike schrie. Die Masken wurden aus ihrer Trägheit gerissen. Die Lippen griffen ihm ins Lenkrad. Kain trat auf die Bremse. Sie flogen nach vorn. Frederike schrie ohne Sinne. Auf der Rückbank schlug sie der Kleine, bis sie endlich verstummte.
»Spinnst du!«, wurde Kain angebrüllt. »Willst du unseren Tod?«
Die Pistole saß ihm zwischen den Augen. Kain spürte seinen Schweiß auf der Stirn, auf dem Rücken. Er machte sein Hemd nass. Aber es war eine Chance: Sie standen. Die Fahrt war zu Ende! Sie würden frei sein! Kain war zum Lachen zumute. Die Kollegen würden gleich kommen. Sie hatten sicher bereits das Kommando zu ihrem Einsatz erhalten. So eine Gelegenheit kam nie wieder. Sie würden die Masken gleich festnehmen. Zum Schuss würden die gar nicht mehr kommen. Los, macht!
Kain schaute auf die Pistole und dann direkt in die Augen der Lippen. Eigenartige Bildkomposition. Diese Augen hielten seinem Blick nicht stand. Sie sahen nach links, rechts, links. Auch die Kidnapper rechneten mit einem Angriff, waren in Panik.
»Blöde oder was?« Aus der Stimme der dicken Lippen klang Wut.
Kain stotterte: »Eingeschlafen.« Er blinzelte. »Ich bin fast einen Tag ohne Schlaf. Ich habe gearbeitet.« Jetzt mussten sie kommen, die Kollegen. Jetzt! Kain schielte aus dem Fenster, seinen Kopf von der Pistole zu drehen, hatte er keinen Mut. Lkws standen auf den Parkplätzen der Autobahn. Die Fahrer schliefen. Die Umtauschbude hinter der Abfertigungshalle sah aus, als würde sie gleich in sich zusammenbrechen.
»Clevere Ausrede.«
Kain wusste nicht, ob die Maske mit den dicken Lippen ihn durchschaut hatte oder nur so daherredete. »Ich kann nicht mehr.« Kain holte Luft. Er sah keine Kollegen, die auf sie zurannten. Keine Scheinwerfer blendeten auf. Keine Einsatzwagen bremsten kreischend. Keine GSG 9 kam, um sie zu retten. Der Grenzübergang lag still, ohne Licht. Ein Truck rollte vorüber. Auch er hielt nicht an. »Ich kann nicht mehr. Sie müssen mir glauben.«
»Rutsch rüber.« Die Lippen zogen ihn zu sich auf den Beifahrerstuhl.
Kain quälte sich über Konsole und Gangschaltung. Sein Gesicht kam dem Frederikes ganz nah. Hau ab, Frederike, hau ab! Er hoffte, dass die Masken keinen Ton verstanden. Hau ab, Frederike, hau ab! Sie sah ihn mit großen Augen an, die gar nichts begriffen. Sie fasste eine Wasserflasche und setzte sie an. Hau ab, Frederike, hau ab!
Frederike lächelte, als sei er ihr Prinz aus dem Märchen. »Schmeckt gut. Willste auch?«
Hau ab, Frederike, hau ab! Sie hatte einen Schock. Und er hatte keine Chance, ihr diesen Ausweg begreiflich zu machen. Und noch immer näherten sich keine Uniformen mit Schutzschild und Gewehr. Sie blieben allein hier mitten auf einem verlassenen Grenzübergang. Warum, verdammt, kommen die nicht? Warum? Waren sie ihnen gar nichts wert?
»Setz dich!« Der Kleine zerrte ihn von hinten auf den Beifahrersitz. »Mach schon, oder willst du wirklich abgeknallt werden?«
Die dicken Lippen öffneten die Beifahrertür und sicherten den Ausstieg nach allen Seiten. Er schlich um das Auto herum, die Beine gebeugt wie im Western, jede Faser auf dem Sprung, mit jeder Gefahr rechnend. Auf der Fahrerseite stieg er wieder ein, legte den Gang ein. Die Reifen quietschten. Sie fuhren weiter.
Keiner hatte sich ihnen entgegengestellt. Kain verzweifelte. Hatten die Kollegen nicht begriffen, waren sie ihnen egal? Das wäre die letzte Chance gewesen, die Sache schnell zu beenden. Jetzt fuhren sie auf fremdes Gebiet. Im Ausland waren Absprachen schwierig. Kain erinnerte sich seiner Arbeit als Kommissar. Nicht nur einmal hatten Bruno und er in Nachbarländern ermitteln müssen. Polen. Tschechien. Missverständnisse auf Behörden- und persönlicher Ebene machten die Zusammenarbeit zum Wagnis. Nur Zufall und Geduld hatten die Fälle zum erfolgreichen Abschluss gebracht, die Täter überführt. Ihre Entführung jetzt ließ lange Gespräche und Dienstwege
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