Frederikes Hoellenfahrt
gar nicht zu. Sie mussten gleich handeln. Auf direktem Wege. Schnell. Ohne zu fragen. Die Kollegen handelten nicht. Er hatte ihnen eine gute Chance geboten. Sie war vorbei.
Kain rutschte tiefer in seinen Sessel. Er fühlte sich unwohl. Frederike reichte ihm die Wasserflasche nach vorn. »Trink einen Schluck.« Er nahm ihn, das Wasser verdampfte in seiner trockenen Kehle.
Überhöhte Geschwindigkeit. Die Lippen hatten Fahrt aufgenommen. Sie fuhren die Autobahn Richtung Ustí nad Labern, Prag. Betonplatten und weiße Striche. Betonplatten und weiße Striche. Hinweisschilder rasten vorbei. Die Leitplanken leuchteten.
Er war gescheitert. Kain gestand es sich ein. Und er hatte seinen Fahrerplatz aufgegeben. Jetzt konnte er nichts mehr tun, nichts steuern, was er vorher vielleicht noch gekonnt hätte. Er hatte das Lenkrad in einer irrwitzigen Hoffnung aus der Hand gegeben. Die Kollegen ließen sie mit den Gangstern allein. Sie griffen nicht ein. Er sah sich zu Frederike um, sie lächelte, als würde sie ihm damit Mut zusprechen wollen. Er reichte ihr die Flasche nach hinten.
Frederike nahm sie nicht an. »Behalt sie doch vorn. In deiner Tür ist extra ein Fach für die Flaschen.«
»Ja.« Kain stellte die Flasche hinein. Nein, er würde die Idee ihrer Befreiung nicht aufgeben. Er würde die Sache selbst in die Hand nehmen, selbst in die Hand nehmen müssen. Frederike konnte ihm vertrauen, er würde sie lebend aus diesem fahrenden Sarg herausbringen. Das versprach er ihr ohne Worte und nickte ihr aufmunternd zu. Zu lächeln fiel ihm schwer. Das Lächeln Frederikes wirkte befreit. Sie schien wie in Trance.
»Kannst auch Red Bull oder einen Wodka haben. Vielleicht geben die Herren was ab.«
»Muss nicht sein«, wehrte Kain ab. Er musste klaren Kopf behalten. Wenn die Masken tranken, machten sie vielleicht eher einen Fehler, der ihn eingreifen ließ. »Nee, lass man.«
»Weißte, dass ich erst voriges Jahr in Prag war.« Sie lächelte und schwelgte wohl in Erinnerungen. »Auf dem Wenzelsplatz, weißt du, dort gab es eine Konditorei, da konnste dich dumm essen, so lecker schmeckte das. Die gibt’s bestimmt noch …«
Frederike redete, als stände sie mit ihm am Tresen, und sie sprachen über die Ereignisse des letzten Wochenendes. Kain glaubte an eine Abwehrreaktion ihrer Psyche. Frederike verdrängte die Gefahr, in der sie sich befand, indem sie sie ignorierte. Er hatte öfter von solchem Verhalten gelesen. Er war mehrmals solchen Zeugen begegnet. Sie empfanden, als wäre gar nichts passiert, als sähen sie ihr eigenes Leben als Film.
»Weißte, dann war ich am Grab Kafkas. Ich las Die Verwandlung und hatte mir noch mal Die Frau hinterm Ladentisch und Das Krankenhaus am Rande der Stadt angeschaut. Prag war, als würde man den Schauspielern auf der Straße begegnen …«
»Halt dein Maul!«, rief der Fahrer. Augenblicklich verstummte Frederike.
Kain musste sie beide befreien. Frederike musste er befreien. Er hatte noch den Kuli für die Rechnungen in seiner Hosentasche. Er würde Frederike eine Nachricht zukommen lassen. Flieh, wenn du kannst! Papier fehlte. Er würde es in seine Hand schreiben. Sie musste begreifen. Frederike musste entkommen.
Die dicken Lippen klebten am Lenkrad und schauten die Straße voraus. Betonplatten und weiße Striche. Betonplatten und weiße Striche. Hinweisschilder rasten vorbei. Die Leitplanken leuchteten. Flieh, wenn du kannst! Er würde sich diesen Satz auf den Handteller schreiben. Frederike würde verstehen.
Die Autobahn war plötzlich zu Ende. Sie rasten durch einen Kreisverkehr. Die Geschwindigkeit trug sie fast aus der Kurve. Der Kleine auf der Rückbank schrie kurz, wahrscheinlich war er aus seinem Schlaf gerissen worden.
»Verfluchte Scheiße!«
Eine Baustelle näherte sich. Der Fahrer stoppte nicht, als die Ampel auf Rot stand. Kain dachte nicht an den Gegenverkehr.
»Halten Sie in Prag an?«, fragte Frederike und hatte gar nichts begriffen. »Ich würde Sie gern zu einem Tässchen Kaffee ins Café einladen wollen.«
5:45
»Haben Sie eine Vorstellung, wie lange es dauert?« Miersch biss in ein Salamibrötchen. Die Gurkenscheiben, mit denen es belegt war, rutschten auf den Teller. Dr. Britt Tomaselli hatte sich Quarkkuchen genommen.
Der Kriminaldirektor und die Psychologin saßen in der großen Kantine des Polizeipräsidiums und schienen Ausstellungsstücke zu sein. Die Kollegen machten einen Bogen um sie, tuschelten und grüßten schüchtern und leise. Sie
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