Frederikes Hoellenfahrt
dem Bildungsweg keine Chancen. Sie dealten und stahlen, sie raubten und prostituierten sich. Die Kommissarin suchte einen jungen Mann mit Pickel an der Lippe.
Vielleicht eine Narbe? Sie begann von neuem zu suchen. Sie sah Münder, offene Lippen und feuchte. Verkniffene Münder und sehr sinnliche. Schorfige Lippen, volle, gerissene, blutige. Manche Täter hatte man nach Schlägereien verhaftet. Das ist er, dachte Schabowski, bei manchem Gesicht, glaubte, das könnte er sein. Aber die Fotografierten saßen ein, hatten in ein normales Leben zurückgefunden oder waren verstorben. Den Pickel im Heuhaufen fand sie nicht. Und doch verließ Schabowski nicht das Gefühl, etwas entdecken zu können. Sie kochte sich einen Tee. Fast alle anderen im Präsidium tranken die Brühe aus den Automaten.
Die Kommissarin war sich sicher, dass die beiden Täter bereits vorbestraft waren. Wer solch einen Raubüberfall mit anschließender Geiselnahme beging, war polizeibekannt, so einer hatte ein Register. Sie zog das Teenetz nach drei Minuten heraus und wusste, es war nicht die letzte Tasse gewesen.
Schabowski musste den Tee kalt werden lassen. Bereits mehrmals hatte sie sich die Zunge verbrannt. Jugend. Jugendspezifische Delikte. Im Bereich der polizeilich erfassten Straftaten fallen hierunter Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, Raubdelikte, Graffiti … Schabowski suchte vor allem unter jenen Straftätern, deren Namen im Zusammenhang mit dem Diskokrieg fielen. Manch einer wurde genannt, gegen den bereits wegen Drogenkriminalität oder Körperverletzung ermittelt worden war. Die Liste war lang. Der Tee schmeckte nicht wirklich. Sie hätte ihn länger ziehen lassen sollen, jetzt schmeckte sie kein Aroma. Es war als tränke sie heißes Wasser.
Schabowski sah Bärte und Babygesichter. Narben sah sie keine und keine Pickel. Sie begann die Suche von vorn und schüttete ihren Tee in den Ausguss. Dann setzte sie neues Wasser auf und spülte das Teenetz. Für einen vollendeten Genuss gönnen Sie der Zubereitung des Tees ein paar Minuten der Aufmerksamkeit.
Lippi. Was konnte der Name Lippi bedeuten? Dass die Lippe eine Auffälligkeit zeigte. Schmale Lippen. Dicke Lippen. Narben an den Lippen. Pickel an den Lippen. Rissige Lippen. Blut an den Lippen. Agnes Schabowski wartete, bis sich der Kocher ins Aus klickte. Vitali der Ältere hatte sich vielleicht getäuscht. Es machte keinen Sinn. Nicht der Große hatte den Kleinen Lippi genannt. Umgekehrt.
Überhaupt Vitali. Agnes Schabowski suchte nach seiner Karte. Vitali Kreuzpointner – Telefonnummer, Adresse. Mehr nicht. Aber die Visitenkarte war mit seinem Foto unterlegt. Eigenartig. Die Kommissarin legte sie unter ihre Schreibunterlage, so ging sie nicht verloren. Sie würde Vitali anrufen und um ein persönliches Gespräch bitten. Rein dienstlich.
Vitali Kreuzpointner. Vera Kreuzpointner. Ik deitsch, und Vitali auch deitsch. Altern wohnen in Bernkastel-Kues. Er wollten chier in Leipzig studieren. Vitali arbeitete im BARocko, um sein Studium finanzieren zu können. Das BARocko war einer der Schauplätze des Diskokriegs. Khalid Georgieff galt als einer der rivalisierenden Bandenbosse. Vitali Kreuzpointner ein Mafioso? Als Mike64 wäre er ihr lieber.
Schabowski griff zum Hörer und legte ihn auf. Auf dem Fensterbrett saß eine Amsel. Die Teetasse wärmte ihre Hände. Lippen. Lippenblütler. Lippenstift. Lippenbär. Lippen. Lippennarbe. Lippenbekenntnis. Lippe. Lipp. Lieb.
Schabowski sah Gesichter. Sie las Biografien und Strafregister. Sie blätterte Seiten. Das Telefon blieb still. Sie kochte Tee. Sie nahm einen Schluck. Sie verbrannte sich die Lippen. Schmale Lippen. Dicke Lippen. Narben an den Lippen. Pickel an den Lippen. Rissige Lippen. Blasen an den Lippen. Sie sah in den Spiegel.
Es klopfte. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, ohne dass die Kommissarin hereingebeten hätte. »Warten Sie, bis ich rufe!« Sie stand vorm Spiegel und zog sich Lippenstift nach. Fehlte noch, dass ein Kollege glaubte, sie sei eitel. Die Tür wurde trotzdem nicht geschlossen.
»Guten Tag. Kollege Miersch hat mich gebeten, Sie bei Ihrer Arbeit zu unterstützen.«
Die Stimme war keine aus ihrem Team. Agnes Schabowski drehte sich um: Bruno Ehrlicher. Sie war erstaunt. »Miersch hat Sie gebeten, mich bei der Arbeit zu unterstützen?«
»Ja.« Er schaute sie fast demütig an.
»Wobei sollen Sie mir den behilflich sein? Ich habe bereits alle Möglichkeiten durch, ich finde keinen Ansatz. Die Spur
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