FreeBook Das Laecheln der Gerberstochter
ungerächt ist, hätte man doch wissen müssen, dass der Emmerich im Grab keine Ruhe finden wird. Vielleicht ist er auf der Suche nach seinen Mördern und wird erst dann seinen Frieden findet, wenn diese gerädert und gehenkt worden sind, wenn man sie verbrannt und ihre Asche in alle Winde verstreut hat.«
Oder hatte sie das alles nur geträumt? Vielleicht war es ja auch nur der alte Küster gewesen, der hin und wieder nach dem Rechten schaute, weil er seinem jungen Nachfolger nicht vertraute. Alte Männer sehen sich im Halbdunkel manchmal zum Verwechseln ähnlich. Doch, nein, sie hatte den Mann klar und deutlich gesehen. Es war Klaus Emmerich gewesen! Kein Zweifel!
Rosa wusste nicht, wie lange sie sich wie erstarrt an den kalten Stein der Säule gelehnt hatte. Der Schlag der Turmuhr ließ sie hochfahren. Wie oft die Stundenglocke schlug, zählte sie nicht mit. Ihr Hals war rau und trocken, und in ihrem Kopf taumelten tausend Fragen. Mondlicht fiel durch die Fenster des Doms und beleuchtete eine verwitterte Grabplatte, die in der Wand eingelassen war.
Natürlich, Kirchen waren nicht nur Orte der Anbetung und des Gottesdienstes, sie dienten auch als Begräbnisstätten für Adlige und Reiche. Unter manchen protestantischen Kirchen waren sogar Grüfte, in denen mumifizierte Adlige aufgebahrt lagen. Sie hatten Sorge gehabt, dass die Engel sie am Tag der Auferstehung übersehen könnten, wenn ihr Leib verwest war. Deshalb wollten sie ihn so gut wie möglich erhalten, sodass Gott sie nur zu verwandeln brauchte.
Auch unter dem Dom lagen ja Grabkammern voller Gebeine – unter ihren Füßen! Seit Jahrhunderten hatte man immer wieder die Steinplatten des Fußbodens herausgenommen, darunter Kammern ausgehoben, dort reiche Kaufleute und Adelige beigesetzt und dann alles wieder zugeschüttet.
Rosa schauderte es plötzlich. Nein, alle Lust, dem Ratsherrn und seinem Kumpanen nachzuspionieren, war ihr gehörig vergangen. Sie wollte keine Minute länger an diesem Ort bleiben, wo ein Wiedergänger herumspukte. Schon gar nicht mitten in der Nacht! Sicherlich würden die Verdächtigen sowieso nicht mehr kommen, wenn sie sich überhaupt hier treffen wollten. Sie war doch verrückt, dass sie sich hier auf bloßen Verdacht hin die Nacht um die Ohren schlug.
Rosa erhob sich langsam. Ihre Knie zitterten immer noch, und sie spürte, wie ihr ganz flau im Magen war. Vorsichtig blickte sie sich im Dom um, den das Mondlicht nur schwach erhellte. Ihre Augen versuchten, die Dunkelheit in den Ecken und hinter den Säulen zu durchdringen. Angestrengt horchte sie mit leicht geöffnetem Mund in den Raum hinein. Aber sie bemerkte nichts Verdächtiges. Nur ihr Herz pochte so laut, dass sie meinte, man müsse es am anderen Ende des Kirchenschiffes hören können.
Schließlich riss sie sich zusammen und huschte das Seitenschiff entlang zum Ausgang. Immer wieder warf sie dabei einen Blick zurück, ob ihr nicht eine Schattengestalt folgte, die sie von hinten an den Hals packen und würgen könnte.
Der Ausgang war nicht verschlossen. Auch der junge Küster war voll abergläubischer Angst aus dem Dom gestürmt und hatte sich nicht mehr blicken lassen.
Sie drückte die mächtige Messingklinke herunter, öffnete die knarrende Tür und schlüpfte hinaus. Im Schatten des Doms sog sie gierig die kühle Nachtluft tief in ihre Lungen und ließ ihre Blicke über den Vorplatz schweifen. Sie musste sich vorsehen, dass sie nicht einem der Büttel in die Hände lief, die Nachtwache hielten. Wie leicht konnte man sie für eine Diebin halten, die sich auf einem nächtlichen Raubzug befand oder gar für eine Hexe, die im Mondschein vor dem Dom dem Beelzebub ihre Heilkräuter weihen wollte. Was dann mit ihr passieren würde, wäre nicht auszudenken. Sie wies diese Gedanken von sich und beeilte sich, in den Schatten der Häuser unterzutauchen.
Nachdem sie den Vorplatz überquert hatte, bog sie in eine schmale Straße ein, die zum Elbufer hinunterführte. Als sie am Haus des Druckermeisters Stetter vorbeikam, öffnete jemand im ersten Stock ein Fenster. Um nicht vom Inhalt eines Nachttopfes getroffen zu werden, blieb sie stehen und blickte nach oben. Das Mondlicht fiel in das Gesicht eines jungen Mannes mit schulterlangem dunklem Haar. Es war Benno Greve, der Advokat, der sie versetzt hatte.
Was tat der im Haus von Meister Stetter? Lebte er etwa hier zur Untermiete? Wohl kaum, denn dann würde er ein Stockwerk höher sein Zimmer haben, nicht aber auf einer Etage
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