FreeBook Das Laecheln der Gerberstochter
Weltgeschehen haben. Dann können sie auch nicht in einer Kirche erscheinen und die Menschen dort erschrecken.«
Anneliese wiegte ihren Kopf bedenklich hin und her. »Und was ist mit dem verstorbenen Samuel, der König Saul erschien? Das steht doch auch in der Heiligen Schrift.«
»Erschien Samuel wirklich dem König Saul?« Meister Stetter blickte seine Tochter prüfend an.
»Na ja, ich weiß nicht«, erwiderte sie nun verunsichert. »Was steht denn dort im Text?«
»Soweit ich mich erinnern kann, sieht nur die Totenbeschwörerin den verstorbenen Propheten, denn Saul fragt sie, wen sie heraufkommen sehe. Und als sie die Gestalt beschreibt, erkennt der König, es müsse Samuel sein. Vielleicht hat die Frau ihn nur belogen und im Namen Samuels gesprochen. Vielleicht aber war es auch ein Dämon, der sich als der Prophet ausgab. Jedenfalls steht im ersten Buch Samuel, dass Saul den Propheten nach ihrer letzten Begegnung bis zu seinem Tod nicht mehr sah. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es der verstorbene Samuel gewesen sei, der dort erschien.«
»Aber hat nicht der Tote – oder meinetwegen die Totenbeschwörerin oder der Dämon – den Tod Sauls vorausgesagt?« Anneliese blickte triumphierend auf ihren Vater.
»Ja, und König Saul hat geglaubt, das stimme. Deshalb hat er sich ja auch selbst ins Schwert gestürzt, als er seinen Feinden nicht mehr entkommen konnte. Überleg mal, hätte er dies nicht getan, sondern Gott vertraut, glaubst du nicht, dass David sofort mit seinen Männern losgezogen wäre, um Israels König zu befreien?«
»Du bist also der Überzeugung, Saul hätte nicht an diesem Tag sterben müssen?«
»Genau. Er hat dieser Wahrsagerin oder einem Dämon geglaubt und sich selbst getötet.«
»Mmh.«
Benno hatte während des Gesprächs zwischen Vater und Tochter hin- und hergeschaut und gelächelt.
»Theologische Diskussionen sind ja genauso kompliziert wie juristische«, sagte er nun.
»Das können Sie wohl glauben«, erwiderte Anneliese. »Ständig diskutieren wir beiden über Gott und die Welt, und meine Mutter schaut zu und amüsiert sich über unsere Auseinandersetzung.«
Plötzlich stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, und sie verkündete triumphierend: »Nun, vielleicht war das in der Kirche dann ein Dämon, der Emmerichs Gestalt angenommen hatte.«
»Ein Dämon in der Kirche, mein Liebes? An einem heiligen Ort, im Haus Gottes?«
»Warum nicht?!«, erwiderte Anneliese fast trotzig. »Schließlich haben die Leute der Bauhütten den Dom mit Fratzen, Dämonengesichtern und heidnischen Symbolen reichlich verziert, warum auch immer sie dies taten und die Kirche nichts dagegen hatte oder es vielleicht so wollte.«
Benno machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Was ist, Benno, haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Wie bitte?«
»Wissen Sie, warum die Kirchen mit heidnischen Symbolen verziert wurden?«, wiederholte Anneliese und blickte ihn prüfend an.
»Nein. Entschuldigen Sie, mir ist gerade etwas Wichtiges eingefallen. Deshalb war ich mit meinen Gedanken woanders. Aber zu Ihrer Frage: Hat nicht die Kirche in den ersten Jahrhunderten heidnische Gebräuche und Vorstellungen übernommen? Warum dann nicht auch Bilder und Skulpturen? Und hat nicht der Künstler Arnolfo di Cambio im Jahr 1298 die Bronzefigur des thronenden Petrus im Vatikan unter Verwendung einer Jupiterstatue gegossen?«
Anneliese schaute ihn aufmerksam an, ging jedoch nicht auf seine Antwort ein, sondern fragte: »Was ist Ihnen wieder eingefallen?«
»Nun, Stadtschreiber Friese hatte mich beauftragt, den Mordfall Emmerich aufzuklären. Ich war nämlich dabei, als der Büttel die Leiche aus dem Wasser zog. Es wird langsam Zeit, dass ich mich an meine Arbeit mache. Ich muss unbedingt die Hauptzeugin vernehmen, doch ich habe vergessen, wie sie heißt und wo sie wohnt. Gestern wusste ich noch ihren Namen. Aber jetzt ist er wie ausgelöscht. Es ist einfach verrückt, dass ich mich nicht mehr an sie erinnern kann.«
»Das sind sicherlich die Folgen des Unfalls«, erklärte Annelieses Mutter, »das wird sich aber in den nächsten Tagen geben.«
»Wie sah sie denn aus?«, fragte Meister Stetter.
»Sie war hübsch, hatte hellblondes, langes Haar und war etwa 20 Jahre alt. Mehr weiß ich nicht.« Benno zuckte hilflos mit den Schultern.
Anneliese kniff fast unmerklich die Augen zusammen und fragte ein wenig spitz: »Hellblond, zwanzig und hübsch? Haben Sie keine genauere Beschreibung? Wo haben Sie die Frau denn
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