FreeBook Das Laecheln der Gerberstochter
Minuten bis zum Ende des Gottesdienstes schienen Stunden zu dauern. Endlich ertönte der Schlussakkord der großen Orgel. Die Menschen stürmten zum Ausgang.
Nur weg, weg von diesem Ort, wo das Mordopfer keine Ruhe fand und nach Rache gierte!
Dann war es totenstill. Auch Pfarrer Bake hatte die Kanzel verlassen und war zusammen mit Berta Emmerich aus der Kirche geeilt. Nur Rosa saß noch neben der Säule im hinteren Kirchenschiff. Auch ihr hatten sich vor Schreck die Haare gesträubt, aber sie war nicht davongelaufen. Sie saß zusammengekauert in der Kirchenbank und flehte zitternd zu Gott um Schutz und Beistand.
Warum nur war sie geblieben? War ihre Neugier, ob die Verschwörer sich hier treffen würden, größer als ihre Angst vor der Schattengestalt am Deckengewölbe? Rosa wusste es selbst nicht. Sie atmete tief durch, um innerlich ruhig zu werden und klare Gedanken fassen zu können.
Was war das gewesen? Konnte es wirklich der Geist des Ermordeten gewesen sein? Lebte er nun so lange als Schatten in der Welt der Lebendigen, bis der Mord gesühnt war und er dadurch Ruhe fand?
Plötzlich hörte sie eine Tür knarren, dann schlurfende Schritte. Jemand war die Treppe von der Empore heruntergekommen und ging nun durch den Dom! Rosa hielt den Atem an und duckte sich tiefer in die Kirchenbank. Wer immer das auch war, sie wollte nicht gesehen werden.
Ein Schatten glitt über die Wand des Seitenschiffs, der Schatten von Klaus Emmerich!
Rosa biss sich auf die Lippen, um nicht aufzuschreien. Die Schritte kamen näher. Atemlos beobachtete sie, wie ein Mann im Kapuzenmantel mit einer Laterne in der Hand zu der großen Seitentür schlurfte, die zum Kreuzgang führte.
Doch dann hätte sie beinahe aufgelacht, konnte sich aber gerade noch fassen.
Die Schattengestalt von Kaufmann Emmerich war nicht größer als die eines kleinen Jungen. Sie kam von einem Scherenschnitt, der auf der Scheibe der Lampe klebte!
Rosa kicherte in sich hinein. Was für ein Spaßvogel! Erlaubt sich solch einen bösen Scherz und versetzt die halbe Stadt in Panik!
Alle Angst war mit einem Schlag verschwunden. Irgendwie fand sie die Idee faszinierend, den Dombesuchern einen gehörigen Schreckeneinzujagen. Das würde diesen abergläubischen Spießbürgern eine Lehre sein! Die glaubten ja an jeden möglichen Hokuspokus, den man ihnen aufschwatzte, als wenn der liebe Gott sie persönlich überzeugt hätte. Wunderpülverchen und -tinkturen, Amulette gegen den bösen Blick oder kraftspendende Kupferarmreifen. Angst vor Dämonen, Hexen und Teufeln. Martin Luther würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, könnte er diesen Aberglauben sehen. Da war der heutige Abend eine gehörige Lektion für diese Leute, vorausgesetzt der Kapuzenmann stellte seine Laterne mit dem Scherenschnitt vorn am Altar ab, sodass jeder sehen konnte, was die Gottesdienstbesucher in Angst und Schrecken versetzt hatte. Dass der Mann seine Identität preisgeben würde, das glaubte Rosa nicht. Die aufgebrachte Menge würde ihn sicherlich in Stücke reißen, wenn sie die Wahrheit erfuhr.
Doch wer war dieser Kapuzenmann?
Vorsichtig spähte Rosa zwischen Säule und Kirchenbank dem Geheimnisvollen hinterher.
Als wollte er ihre Frage beantworten, drehte der Mann sich um. Gespenstig beleuchtete der Schein der Laterne sein Gesicht von unten.
Es war Kaufmann Klaus Emmerich!
Rosa blieb der Atem weg. Er war es tatsächlich! Doch sein Gesicht war nicht mehr verquollen und aufgedunsen, und seine Augen funkelten unter den buschigen Brauen.
Rosa spürte, wie ihre Beine weich wie Wachs wurden. Das konnte nicht sein! Emmerich war doch mausetot! Sie hatte seinen aufgedunsenen Leichnam selbst gesehen, und er lag nun schon seit zwei Tagen unter der Erde des Gottesackers.
Rosa sank zu Boden und erstarrte, doch ihr Herz raste.
Die Tür zum Kreuzgang knarrte, und der tote Kaufmann war verschwunden. Rosa atmete auf. Trotzdem spürte sie weiter diese Beklemmung, einem Verstorbenen begegnet zu sein.
War Emmerich etwa von den Toten auferstanden?! Bestimmt nicht. Erst am Jüngsten Tag würde Jesus sie aus den Gräbern rufen. So hatte es der Herr selbst gesagt. War er ein Wiedergänger, ein Untoter? Aber nein, das hielt sie für mittelalterlichen Aberglauben. Oder gab es so etwas tatsächlich? Sie war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher.
Hatten die Leute recht, die jetzt sagen würden: »Der Leichenbestatter hätte den Sarg mit Eisenbändern sichern müssen!«? Und: »Weil sein Tod
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