freeBook Kein Espresso fuer Commissario Luciani
die einzig richtige Erklärung für das hier ist, daß ein Schiedsrichter gut
verdient, sehr gut sogar. Die Leute wissen das vielleicht gar nicht, denken, die Schiedsrichter wären alle Amateure und würden
von Montag bis Samstag den Beruf ausüben, den sie ins Jahrbuch des Fußballs eintragen lassen: Vertreter, Geschäftsmann, Versicherungskaufmann
…«
»Und in Wirklichkeit?«
»In Wirklichkeit trainieren sie von Montag bis Samstag, vier-, fünfmal die Woche, genauso eisern wie die Spieler. Und hinzu
kommen Meetings, Lehrgänge, und bei internationalen Referees noch die Auslandsreisen, zu Europacup-Partien und Spielen der
Nationalmannschaften.«
»Ein Vollzeitjob.«
»Genau. Und der wird entsprechend bezahlt, das heißt: im Vergleich zu den Spielern ist es immer noch wenig. Seit er Internationaler
geworden war, vor sieben Jahren, verdiente mein Mann ungefähr hundertfünfzigtausend Euro im Jahr, er war ständig unterwegs
und hatte schlichtweg nicht die Zeit, das Geld auszugeben. Wie Sie sehen, konnten wir uns dieses Haus leisten.«
Das alles wußte Marco Luciani bereits, aber er tat, als hörte er es zum ersten Mal. Frau Ferretti mußte diese Dinge schon
so oft wiederholt und damit die immergleichen ungläubigen Mienen provoziert haben, daß er sie nicht enttäuschen wollte, indem
er anders reagierte.
»Nicht schlecht … Das sollte man bei der Berufswahl in Betracht ziehen.«
»Jawohl. Wenn es nicht ein paar unliebsame Nebenwirkungen gäbe.«
»Meinen Sie die Fußballfans?«
Witwe Ferretti machte eine großmütige Geste, als ob sie mit einer Hand einen ganzen geifernden Fanblock wegwischen könnte.
|100| »Ach, die Fans. Die bellen nur und beißen nicht. Ja, die brüllen, fletschen die Zähne, und manchmal haben sie uns wirklich
erschreckt, aber sie machen nie Ernst.«
»Hin und wieder schon.«
»Das stimmt, allerdings hauen sie sich dann höchstens gegenseitig die Köpfe ein. Aber in dieser Branche würde es niemand wagen
– weder Fans noch Spieler oder Offizielle –, einen Schiedsrichter anzugehen. Mit seiner Pfeife bannt dieser nicht nur die
zweiundzwanzig Spieler und hunderttausend Zuschauer, sondern auch die Radiohörer, das Fernsehpublikum, Millionen Menschen.
Der Schiedsrichter kann sie linken wie kein zweiter, er kann einen unberechtigten Strafstoß pfeifen oder einen glasklaren
Elfer verweigern, aber niemand wird es je wagen, ihn anzufassen, er wird vielleicht einmal bedrängt, ein wenig geschubst,
aber niemand würde sich trauen, weiterzugehen. Und wollen Sie wissen, warum?«
»…«
»Weil der Schiedsrichter immer nach bestem Wissen und Gewissen handelt; wenn er einmal irrt, dann deshalb, weil er auch nur
ein Mensch ist. Und das wissen die Leute.«
Marco Luciani war enttäuscht von einer derart banalen Pointe. Bis dahin hatte die Frau sich wacker geschlagen; sicher, die
eine oder andere pseudosoziologische Binsenweisheit hätte sie sich verkneifen können, aber alles in allem hatte sie Kaltblütigkeit
unter Beweis gestellt. Aber nicht einmal sie konnte ernsthaft an diesen verlogenen Sermon über »Wissen und Gewissen« glauben,
der den Leuten schon tausendmal vorgekaut worden war und bei dem alle so taten, als würden sie ihn schlucken.
»Gnädige Frau, inzwischen werden die Leute wegen einer Brieftasche oder eines Mofas umgebracht. Oder wegen eines herausfordernden
Blicks. Wenn ein Schiedsrichter zu Recht oder zu Unrecht in seine Pfeife bläst, dann kann er |101| Tausenden Fanatikern das Wochenende versauen, und außerdem kann er Millionenbeträge umschichten.«
Die Witwe lächelte: »Ich sehe, daß Sie sich mit einfachen Antworten nicht zufriedengeben. Wenn man zynisch sein wollte, könnte
man sagen: Sie haben recht. Aber glauben Sie mir, für Fans, Spieler und Offizielle steht zu viel auf dem Spiel, um ein Risiko
einzugehen. Der Fußball ist nicht der Alltag, in dem man sich wegen ein paar Groschen abmurkst. Hier hat jeder ein Riesenstück
vom Kuchen zu verwalten, und es wäre Irrsinn, den Konditor umzubringen.«
»Und doch könnte es sein, daß Ihr Gatte ermordet wurde.«
»Mein Mann hat sich umgebracht.«
»Was macht Sie da so sicher?«
»Ich bin sicher, weil, wie gesagt, niemand ein Interesse hatte, ihn zu töten. Und dann wissen wir beide nur zu gut, warum
er sich umgebracht hat.«
Marco Luciani musterte die Witwe aufmerksam.
»Sie wundern sich, Herr Kommissar? Und doch haben Sie diese Frage auf der Zunge, seit Sie
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