freeBook Kein Espresso fuer Commissario Luciani
dorthinzugelangen, mußte man zuerst durch die breite, stark frequentierte Ausfallstraße, die am Fluß entlangführte. Eine
Verkehrsader, die jeden Abend Hunderte Pendler aus dem Zentrum pumpte und in eine chaotische Blechlawine verwandelte. Während
die Leute in ihren kleinen Stahlgefängnissen steckten, sahen sie die Omnibusse auf der Busspur an sich vorbeirauschen. Marco
Luciani beobachtete sie oft, diese einsamen Männer zwischen Vierzig und Fünfzig, mit schütterem Haar und Ansatz zum Doppelkinn.
In Hemdsärmeln saßen sie da und wirkten, bis auf wenige Ausnahmen, nicht einmal entnervt. Sie hupten nicht, schienen es nicht
besonders eilig zu haben. Wahrscheinlich waren diese beiden Stunden, die sie morgens und abends im Stau verbrachten, Radio
oder irgendeine CD hörend, für viele von ihnen die unbeschwertesten Momente des Tages, dachte er. Die Jobsorgen lagen hinter
ihnen, und noch standen sie nicht unter dem Pantoffel von Ehefrau und Kindern und konnten in aller Ruhe ihren Gedanken nachhängen.
Oder, noch besser: an gar nichts denken. Ihr Auto war das Ein-Zimmer-Apartment, das sie sich nicht leisten konnten, die Absteige,
in der man eine Dose Cola trinken, Musik hören und die Kollegin anbaggern konnte, die sich ein Stück mitnehmen ließ. Nein,
sie hatten es nicht eilig, nach Hause zu kommen, wo die Frau wartete, die ins Kino wollte, während ihnen einfach nur danach
war, auf dem Sofa herumzulümmeln; wo die Kleinkinder warteten, |95| die ihre ungeteilte Aufmerksamkeit beanspruchten und ihnen wie kleine Vampire den letzten Tropfen Blut und Energie aussaugten.
Marco Luciani fragte sich, ob auch der aus Livorno zugezogene Herr Ferretti manchmal seine Heimkehr hinauszögerte, wenn er
von den Auswärtsspielen und Luxushotels zurückkam, von den Abendessen in schicken Restaurants, den Soireen in Privatclubs,
mit gefälligen jungen Gespielinnen. Und er fragte sich, ob er nach so einem Seitensprung befriedigt, ausgeglichen und versöhnlich
zu seiner Frau heimkehrte oder ob es in seinem Innern einen kleinen Riß gab, der sich von Tag zu Tag weiter öffnete. Der Kommissar
erkannte, daß dies die Schlüsselfrage war, hinter der sich die Antwort auf alle anderen Fragen verbarg, auf die Frage, warum
der Stuhl so weit weg stand, warum das Handy verschwunden war und sich auf Ferrettis Fingern Tintenflecken befanden.
Die Hausnummer hing an einem großen Steinportal, das von einem Eisentor verschlossen war. Das Haus lag hinter Zypressen und
einer hohen Hecke versteckt. Marco Luciani stieg aus dem Wagen und klingelte an der Videosprechanlage. Eine Frauenstimme mit
ausländischem Akzent fragte, wer da sei, und forderte ihn auf, rechts den Weg hochzufahren. Der Kiesweg war über einen halben
Kilometer lang, der weitläufige Park sehr gepflegt, der Kommissar bemerkte einen Gärtner, der auf einer Leiter stand und mit
einer riesigen Schere eine Hecke trimmte. Hinter einer Kurve lag die große cremefarbene Villa. Hellblaue Fensterläden, vor
dem Eingang eine Marmortreppe. Die mittlere Balustrade war mit weiblichen Statuen verziert. Marco Luciani kam sich vor wie
auf dem Set für einen Werbespot. Nicht einmal der grüne Jaguar auf dem Vorplatz fehlte, und Luciani hätte sich nicht gewundert,
wenn er zwei Models – ein blondes und |96| ein schwarzhaariges – entdeckt hätte, die, in Leopardenfelle gehüllt, neben der Haustür hockten und Wache hielten. Statt dessen
wartete ein philippinisches Hausmädchen auf der obersten Treppenstufe. Es betrachtete die staubigen Schuhe des Kommissars
und versicherte sich, daß er sie gründlich auf dem Fußabstreifer abtrat, ehe sie ihn durch ein bombastisches Vestibül führte,
das mit Teppichen, Rüstungen, Spiegeln und Tischen im Barockstil vollgestopft war.
Die Witwe empfing ihn auf dem Sofa im Salon sitzend. Sie trug einen beigefarbenen Hosenanzug und tat, als blätterte sie gerade
in einer Zeitschrift. Als sie den Kommissar sah, legte sie sofort das Magazin auf den Tisch, auf dem eine Dekantierkaraffe
aus Kristallglas mit einer roten Flüssigkeit und ein leeres Glas standen. Aber sie erhob sich nicht, um den Gast zu empfangen.
Sie beschränkte sich auf ein »Guten Tag, Herr Kommissar« und zeigte mit einer müden Geste vor sich auf einen Sessel.
Marco Luciani betrachtete aufmerksam die makellose Wohnzimmereinrichtung aus cremefarbenem Leder, die Teppiche, den glänzenden
Marmorfußboden. In einem Vitrinenschrank standen
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