freeBook Kein Espresso fuer Commissario Luciani
Schuß … Wissen Sie, ob er während des Spiels getroffen wurde?«
»Ja, eben, genau an der Stelle.«
»Nun … dann war das wohl der Grund.
Ein Schlag mit einem runden, nicht übermäßig harten Gegenstand mit leicht angerauhter Oberfläche
«, zitierte er aus dem Gedächtnis seinen Bericht. Er schwieg wieder einen Moment, dann fühlte er sich zu einer Entschuldigung
genötigt. »Wie dumm von mir, daß ich daran nicht gedacht hatte, tut mir leid.«
»Nein, darauf konnte man nicht so leicht kommen. Die Schuld liegt allein bei mir, ich hätte mir das Video viel früher anschauen
müssen.«
Er verabschiedete sich von dem Gerichtsmediziner und dachte, daß sie beide tatsächlich dumm und oberflächlich agiert hatten.
Und er ertappte sich bei dem Gedanken, daß es immer leicht war, für simple Zusammenhänge komplexe Erklärungen zu finden. Sicher,
wenn man noch weiter gehen wollte, konnte man unterstellen, daß der Mörder den Schuß beim Spiel beobachtet und beschlossen
hatte, Ferretti genau an dieser Stelle zu treffen.
»Immer auf dieselbe Stelle, immer auf dieselbe Stelle«, murmelte Luciani, während er die Luft mit einem Karateschlag traktierte.
Erst jetzt wurde ihm klar, daß Rebuffo, genau wie er auf seinem Kärtchen geschrieben hatte, an eines der entscheidenden Fragezeichen
in dem Fall gerührt hatte. Allerdings war das Trauma an der Schläfe in keinem Zeitungsbericht erwähnt worden. Wie also hatte
Rebuffo davon erfahren? In dem Moment ließ der Elfmeter Luciani vom Sofa aufspringen. Mit den Grübeleien war es vorbei. Für
den Kommissar hatte es ausgesehen, als hätte der Stürmer sich fallen lassen, noch bevor der Verteidiger ihn überhaupt berührte,
und er hatte den Eindruck, Ferretti habe eine Schwalbe gepfiffen. Aber dann machte Adelchi sich bemerkbar, die beiden führten
ein kurzes Zwiegespräch, |92| und schließlich zeigte der Schiedsrichter auf den Elfmeterpunkt.
Die dreifache Zeitlupenwiederholung bestätigte, daß der Elfmeter nicht berechtigt war, doch Ferretti stand keine Zeitlupe
zur Verfügung, und er würde sie wohl auch nicht mehr sehen wollen. Die Proteste der Gastgeber überrollten ihn fast, er schaffte
es mit Müh und Not, ein wenig auf Abstand zu gehen und noch zwei Gelbe Karten zu verteilen. Die Proteste dauerten über drei
Minuten, dann verwandelte Rebuffos Mittelstürmer den Elfer und deutete sogar einen kleinen Torjubel an. Auf den Südrängen
wurde ein Transparent entrollt, auf dem stand: »Wenn der Schiedsrichter betrügt, ist es Elfmeter«. Und just in diesem Moment
war auf der Stadionleinwand eine Nahaufnahme von Ferretti zu sehen. Eine Gruppe der heimischen Fans erhob sich und begann
zu applaudieren; einen Augenblick später war das ganze Stadion, vierzigtausend Menschen, auf den Beinen und klatschte in die
Hände, ein schleppender Beifall voll bitterer, tief empfundener Ironie. Es gab weder Geschrei noch Sprechchöre, kein Wutgeheul,
keine Schmährufe, nur diesen Applaus, der immer weiter und weiter ging, während auf der Megaleinwand – sicher nicht von ungefähr
– das Standbild von Herrn Ferretti aus Livorno verharrte. Der Kommissar hatte in der Zeitung eine knappe Bemerkung zu dieser
besonderen Form des Protests gelesen; aber erst jetzt, da er es selbst sah, wurde ihm dessen volle Bedeutung klar, und wie
erschütternd das Ganze auf jemanden gewirkt haben mußte, der dabei auf dem Rasen stand. Der Applaus der Gastgeber ging noch
zwei, drei Minuten weiter, dann wurde er von den Sprechchören der Fanblocks übertönt, und als die Fernsehkamera wieder auf
die düstere Miene des Schiedsrichters schwenkte, sah Marco Luciani, daß der ätzende Hohn Ferretti bis ins Mark erschüttert
hatte. Er pfiff die Halbzeit eine Minute zu früh ab, griff sich den Ball |93| und eilte Richtung Umkleide. Mit gesenktem Kopf verschwand er im Kabinengang, während ein Pfeifkonzert der vierzigtausend
Zuschauer einsetzte, das schließlich die Kommentatorenstimme überdeckte. Es war erschütternd, wenn man bedachte, daß dies
die letzten Momente im Leben des Tullio Ferretti waren.
Hier endete das Videoband. Marco Luciani holte die Kassette aus dem Recorder und dachte: eins zu null für Rebuffo. Aber die
Partie war noch lange nicht zu Ende, und längst nicht entschieden.
|94| Donnerstag
Frau Ferretti, oder besser: Witwe Ferretti bewohnte eine Villa auf einem der Hügel, wo die reichsten Turiner Familien residierten.
Um
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