freeBook Kein Espresso fuer Commissario Luciani
bißchen menschlicher gewirkt.
Er sah, daß die Ampel grün war, und bog plötzlich ab, ohne zu wissen, warum. Er überquerte den Corso Italia, verließ seine
gewohnte Trainingsstrecke und lief bergauf in eine Seitenstraße. Er hielt sich auch nicht mehr an sein normales Tempo, sondern
setzte zu einem Sprint von hundert, zweihundert, dreihundert Metern an. Sein Herz hämmerte, weniger vor Anstrengung als vielmehr
vor Freude, daß er plötzlich sein Trainingsprogramm aufgegeben hatte. Er kam |258| auf der Piazza Leopardi heraus, und als er das Geschrei und das Dotsen eines Fußballs hörte, das vom Bolzplatz am Betsaal
kam, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Wie lange hatte er kein Fußballspiel am Betsaal mehr gesehen … nun, seit er
das letzte Mal dort gespielt hatte, vielleicht mit fünfzehn. Also seit über zwanzig Jahren. Er war für sein Leben gern auf
diesen Bolzplatz gegangen, hatte täglich dort gespielt; er war mit Abstand das größte Talent gewesen, und nachdem er in einer
richtigen Nachwuchsliga angefangen hatte, sagten seine Trainer ihm eine Zukunft in der Serie A voraus.
Er blieb stehen, trat an das Tor und betrachtete die spielenden Kinder. Er hatte ein fröhliches Mischmasch kunterbunter Trikots
erwartet, Kinder jeden Alters und unterschiedlicher Größe; statt dessen sah er zwei Mannschaften aus zehn- bis elfjährigen
Jungs in Einheitstrikots. Die eine Mannschaft blau, die andere gelb. Es gab sogar einen Schiedsrichter: Anscheinend eine offizielle
Begegnung, die von einer Menge Eltern am Spielfeldrand verfolgt wurde. Luciani fragte sich gar nicht erst, warum die Kinder
vormittags Fußball spielten, statt in die Schule zu gehen. Er lehnte sich ans Tor und schaute eine Weile zu. Es fiel sofort
auf, daß keines der Kinder lächelte, die Mienen waren ernst oder verbissen, ein Trainer salbaderte unentwegt, und auch viele
Eltern brüllten Anfeuerungsrufe oder Anweisungen aufs Feld.
Ein Junge in blauem Trikot grätschte einem Gegner beherzt in die Beine, und als der Schiedsrichter pfiff, hob er die Arme,
als wollte er sagen: »Wer denn? Ich?« Er setzte dieselbe tumbe Unschuldsmiene auf wie die Profifußballer, während sich der
andere im gelben Leibchen theatralisch am Boden wälzte. Ein Vater schrie: »Bravo, immer drauf, brich ihm die Knochen«, und
ein anderer schrie als Antwort: »Stell ihn runter, Schiri, stell diesen Drecksack vom Platz!« Auf dem Feld kam es zu ersten
Handgreiflichkeiten, doch |259| der Schiedsrichter verteilte schnell zwei Gelbe Karten, dann wurde die Partie mit einem Freistoß fortgesetzt. Die Nummer sechs
der Gelben versuchte es mit einem direkten Torschuß, verzog den Ball aber gründlich, und einer seiner Mitspieler rief ihm
zu, er solle sich ins Knie ficken. Ein Vater sprang am Zaun hoch und schrie: »Schwachkopf! Was war’n das für ’ne Gurke? Laß
Gianni die Freistöße treten!« Auch eine Mutter bellte Ratschläge aufs Feld: »Deck deinen Mann! Bleib dran!« Kurz darauf lief
der Kapitän der Gelben allein in den gegnerischen Strafraum. Als der Torhüter sich näherte, versuchte der Angreifer nicht
einmal aufs Tor zu schießen, sondern legte gleich eine saubere Schwalbe hin. Sämtliche Eltern der Gelben sprangen auf und
brüllten: »Elfmeter!«, und die Eltern der Blauen schrieen: »Nein, er hat ihn nicht einmal berührt!« Der Schiedsrichter ging
zu dem Jungen und zeigte ihm die Gelbe Karte, und der Vater des Kindes fing an, den Schiri zu beleidigen. Er wollte aufs Spielfeld
rennen, doch seine Frau hielt ihn zurück, deckte den Unparteiischen aber gleichfalls mit Kraftausdrücken ein.
Marco Luciani wandte sich ab und fiel wieder in leichten Trab. Er steuerte den Corso Italia an, wo er seinen gewohnten, einsamen
Lauf fortsetzen wollte. Vielleicht war es zu spät, viel zu spät für das Großreinemachen im Fußball.
Am Nachmittag rief er mehrmals in der Redaktion an, um Baffigo über die jüngsten Entwicklungen zu informieren. Nachdem man
ihm in der Telefonzentrale der Zeitung zum x-ten Mal gesagt hatte, Baffigo sei nicht da, man wisse nicht, wann er zurückkomme,
begriff Luciani, daß etwas passiert war. »Ich bin Kommissar Luciani«, hakte er nach, »ich versuche es schon den ganzen Tag,
auch auf seinem Handy, aber er geht nicht ran. Kann man ihn denn nicht ausfindig machen?«
|260| »Ach, Herr Kommissar. Ich wußte nicht, daß Sie es sind. Baffigo ist im Krankenhaus.«
Marco Luciani dachte
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