freeBooks Thor - Die Asgard-Saga Roman
trauerst du Dingen nach, die hätten sein können? «
»Seit –« Urd brach schon nach dem ersten Wort wieder ab, schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem nervösen Lächeln. »Du hast recht«, sagte sie. »Versuchen wir, das hier zu überleben. Danach haben wir Zeit genug, über verpasste Chancen zu jammern. Und was ich vorhin gesagt habe …«
»Vergiss es einfach«, sagte Thor.
Aber natürlich wussten sie beide, dass sie das nicht konnten.
Gleich zwei Überraschungen erwarteten ihn: Die Stadt war deutlich größer, als es von Weitem den Anschein gehabt hatte, und ihr Name, den er schon in den ersten Augenblicken erfuhr, war Oesengard.
Thor geriet für einen kurzen Moment in Panik, und für einen noch kürzeren Augenblick war er nahe daran, auf der Stelle kehrtzumachen und zu Urd und den Kindern zurückzureiten. Dass er es schließlich doch nicht tat, hatte ebenfalls zwei Gründe: Zum einen war er einfach müde, auf eine Art, die mit körperlicher Erschöpfung nichts zu tun hatte – er war nicht erschöpft, er war des Weglaufens müde –, und zum anderen waren die Menschen hier sehr freundlich. Sie schienen Fremde gewohnt zu sein. Kaum jemand schien von ihm Notiz zu nehmen, als er über die schmale Hauptstraße in Richtung des Hafens ritt. Wenn überhaupt, dann gab allerhöchstens sein wenig ansehnliches lahmendes Pferd Anlass zu dem einen oder anderen fragenden Stirnrunzeln oder auch gutmütig-spöttischen Blick, und als er schließlich die Kaimauer erreichte und sich mit einem erschöpften Laut aus dem Sattel gleiten ließ, trat eine vollkommen fremde Frau auf ihn zu und erkundigte sich mit besorgtem Gesicht, ob er Hilfe benötige.
Thor lehnte ganz instinktiv ab, rief sie aber dann noch einmal zurück, als sie sich mit einem Schulterzucken umwandte und wieder gehen wollte.
»Verzeih«, sagte er. »Vielleicht kannst du mir doch helfen.« Er lächelte ein wenig gequält. »Ich bin fremd hier und suche einen Platz, wo ich mein Pferd unterstellen und vielleicht eine warme Mahlzeit bekommen kann.«
»Ein Gasthaus?« Sie überlegte einen Moment, in dem sie ihn mit schräg gelegtem Kopf ansah und mehr über seine abgerissene Erscheinung nachzugrübeln schien als über seinen Wunsch. Dann nickte sie. »Da bist du richtig. Siehst du das Haus dort hinten? Das große am Ende des Kais?«
Was sie als ›Kai‹ bezeichnete, war genau genommen nicht mehr als eine Reihe nicht besonders ordentlich in den Grund gerammter Baumstämme, die Land und Meer voneinander trennten, aber er sah das Haus, das sie meinte: ein zweistöckiges und sehr langes Gebäude, das ihm schon vorhin aufgefallen war, mit winzigen Fenstern, die ausnahmslos mit schweren Läden verschlossen waren. Allerdings hätte er es eher für eine Scheune oder ein Lagerhaus gehalten als für eine Gaststätte. Aber vor der Tür waren gleich mehrere Pferde angebunden, und aus den beiden Kaminen an den Stirnseiten kräuselte sich dunkelbrauner Rauch.
»Der Wirt ist ein sehr freundlicher Mann«, fuhr die junge Frau unaufgefordert fort. »Ihm gehören auch mehrere Lagerhäuser hier am Hafen und eine Mühle. Wenn du Arbeit suchst und ehrlich bist, dann wird er dir bestimmt helfen.«
Thor wusste im allerersten Moment wenig mit diesen Worten anzufangen, dann begriff er, und sein Lächeln wurde ein wenig gequälter. Sah er so schlimm aus?
»Ganz bestimmt«, meinte die Frau, als hätte er die Frage laut ausgesprochen, und mit einem flüchtigen Lächeln. Thor blickte fragend.
»Du scheinst eine lange Reise hinter dir zu haben«, sagte sie. »Eine anstrengende Reise.«
Thor begriff, dass sie wohl einfach neugierig war und ihn in ein Gespräch zu verwickeln versuchte, wogegen er im Prinzip nichts einzuwenden hatte. Dennoch blieb er vorsichtig. »Sind Reisen das nicht immer?«, fragte er.
»Vor allem in Zeiten wie diesen«, bestätigte sie. »Der Winter will einfach kein Ende nehmen, scheint es. Verrätst du mir, woher du kommst.«
Thor machte eine vage Kopfbewegung. »Von weither.«
»Oh«, antwortete sie. Ihr Lächeln kühlte um eine Spur ab. »Ich verstehe.«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte er hastig. »Ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen. Ich war lange unterwegs, das ist alles. Ich weiß selbst nicht mehr genau, wo ich überall war. Ich war einfach nur froh, diese Stadt zu sehen, das ist alles.« Er lachtenervös. »Ich war nicht einmal ganz sicher, dass man hier eine Sprache spricht, die ich verstehe.«
»Wir sprechen hier viele Sprachen«,
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