freeBooks Thor - Die Asgard-Saga Roman
flüchtig, sie zwei- oder dreimal am Hafen gesehen zu haben, wo sie mit irgendwelchen Besorgungen unterwegs gewesen war, in einem hübschen Kleid und selbst für ihn, den Fremden, immer mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.
Jetzt waren ihre Lippen voller Blut, sie trug die Verkleidung eines Kriegers, und ihre weit aufgerissenen Augen zeigten nur einen Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit. Nichts anderes mehr.
Thor tastete mit zitternden Fingern über ihr Gesicht und ihren Hals, suchte vergeblich nach einem Pulsschlag und schloss schließlich die Augen, um in sie hineinzulauschen. Aber auch dort war nichts mehr. Der Schmerz, nach dem er suchte, um ihn zu lindern oder schlimmstenfalls zu seinem eigenen zu machen, hatte er ihn schließlich auch verursacht, war nicht mehr da. Sie war tot.
Thor ließ den Sturm von Gefühlen, den diese Erkenntnis in ihm auslösen wollte, in diesem Moment nicht zu, sondern konzentrierte sich nur auf das, was er sah und hörte. Der Gesang war abermals lauter geworden, und nun begann eine Trommel einen dumpfen Gegentakt zu dem an- und abschwellenden Kanon zu schlagen. Was immer dort unten geschah, geschah jetzt , und er hatte nicht mehr viel Zeit.
Er erinnerte sich, an mehreren Abzweigungen vorbeigekommen zu sein, hinter denen kein Licht gebrannt hatte. Flüchtig befestigte er die Maske wieder an ihrem Platz, ohne dem vorwurfsvollen Blick der toten Augen dadurch entgehen zu können, lud sich den reglosen Körper auf die Arme und trug ihn ein Stück weit den Weg zurück, bis er eine schmale Kammer fand, gerade groß genug, um ihn vor jedem zu verbergen, der nicht allzu genau hinsah.
So behutsam, wie er überhaupt nur konnte, lud er die Tote auf dem Boden ab, nahm die Maske wieder von ihrem Gesicht und schälte sie anschließend aus ihrem Mantel. Darunter kam kein Kleid zum Vorschein, sondern nur ein kurzer Rock aus mit metallenen Nieten verstärkten Lederstreifen, wadenhohe Stiefel und eine goldfarbene Brünne, die offensichtlich genau der Form ihrer Brüste nachempfunden war. So wie auch die Maske,deren Metall so dünn war, dass er achtgeben musste, sie nicht zu verbiegen, war es keine wirkliche Rüstung, sondern nur eine Maskerade; kunstvoll angefertigt, aber trotzdem nicht mehr als ein Spielzeug.
Ein Spielzeug, das ihr den Tod gebracht hatte.
Thor verscheuchte auch diesen Gedanken, schlang den Mantel um seine Schultern und eilte zur Treppe zurück. Es kostete ihn einige Mühe, die Maske vor seinem Gesicht zu befestigen, und er hatte sich auch verschätzt, was die Größe des vermeintlichen Einherjers anging. Der Mantel reichte ihm kaum bis zu den Waden. Aber wenn er die Kapuze weit genug nach vorne zog und die Schultern senkte, um seine Größe zu kaschieren, würde es vielleicht nicht auffallen.
Außerdem hatte er keine andere Wahl.
Mit jeder Stufe, die er hinunterging, schien der Rhythmus des Trommelschlages schneller zu werden, der Gesang fordernder und der Fackelschein düsterer. Selbst sein Herzschlag passte sich dem dumpfen Dröhnen an, ohne dass er es auch nur merkte.
Die Treppe führte sehr weit in die Tiefe. Nach der zwanzigsten Stufe hörte Thor auf zu zählen, und er musste noch einmal gut dieselbe Entfernung überwinden, bis er der Krümmung der Treppe auch nur weit genug gefolgt war, um zu sehen, wohin sie führte. Eigentlich müsste er sich längst unter dem Wasserspiegel des Hafens befinden, doch die Wände unter seiner tastenden Hand waren nicht einmal feucht.
Wären nicht seine Schritte längst dem gleichmäßigen Takt der Trommel gefolgt, wäre er vor Überraschung vielleicht mitten in der Bewegung erstarrt.
Die Treppe endete in einem Gewölbe von erstaunlichen Ausmaßen, groß genug, um Sjöbloms ganzes Gasthaus aufzunehmen, und sicher doppelt so hoch. Mindestens ein Dutzend mannsdicker gemauerter Säulen trugen die gekrümmte Decke, und an den Wänden brannten zahllose Fackeln, die in kunstvoll geschmiedeten, aber sichtlich uralten Halterungen von teilweise barbarischer Form steckten. Auch hier waren die Wände mit zahllosen Reliefarbeiten geschmückt, denen der flackerndeFeuerschein unheimliches Leben einzuhauchen schien, und auf der anderen Seite gab es ein gewaltiges halbrundes Tor, das von zwei überlebensgroßen steinernen Kriegern flankiert wurde.
Thor schenkte alledem nur einen flüchtigen Blick.
Viel bizarrer war das Bild, das sich ihm zwischen den Säulen dieses unterirdischen steinernen Waldes bot.
Gundri und ihre Mutter waren nicht
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