freeBooks Thor - Die Asgard-Saga Roman
die Einzigen, die zu diesem geheimen Treffen gekommen waren. Es war unmöglich, die genaue Anzahl der Personen zu erkennen, die immer wieder mit den flackernden roten Schatten und dem hämmernden Trommelschlag zu verschmelzen schienen, aber es mussten hundert sein, wenn nicht mehr, und irgendwie spürte er, dass es ausnahmslos Frauen waren. Gleichmäßig verteilt in dem großen Raum gewahrte er auch ein halbes Dutzend Gestalten mit golden schimmernden Gesichtern, erkannte die Lücke in ihrer Aufstellung und nahm mit ruhigen Schritten den freigebliebenen Platz ein. Niemand nahm auch nur Notiz von ihm.
Zeit verging. Thor konnte nicht sagen, wie viel. Der Trommelschlag wurde schneller und lauter, und Thor wartete darauf, dass seine Verkleidung aufflog oder ihn irgendjemand ansprach, doch weder das eine noch das andere geschah, und so konzentrierte er sich ganz auf das Geschehen ringsum.
Auf der anderen Seite des Gewölbes, seinem Standort fast genau gegenüber, stand ein Podest, auf dem sich eine fast doppelt mannshohe Stele aus schwarzem Stein erhob, die nicht in einer Spitze auslief, sondern in einem wuchtigen Hammerkopf, der mit grob gehauenen Runen verziert war. Weitere Runen führten in Reihen an den Seiten der steinernen Stele hinab. Flankiert wurde dieses dunkle Idol von zwei flachen Schalen aus schwarzem Eisen, aus denen prasselnde Flammen schlugen. Es war das barbarische Symbol einer noch viel barbarischeren Religion, die schon untergegangen war, als noch keines Menschen Fuß den Boden dieses Landes berührt hatte, und die jetzt eine feurige Wiedergeburt feierte.
Dieser Glaube hatte eine Hohepriesterin, die in diesem Moment aus den Schatten im Hintergrund des Gewölbes trat undsich mit gemessenen Schritten dem Altar näherte. Sie trug ein fließendes weißes Gewand, das ihre Gestalt vom hoch geschlossenen Kragen bis zu den Knöcheln hinab verhüllte und als einzigen Schmuck eine goldene Flammenstickerei an den Säumen aufwies. Ihr Gesicht verbarg sich hinter einer goldenen Maske mit nur angedeuteten menschlichen Zügen, unter der eine wilde Flut aus ebenfalls goldfarbenem Haar hervorquoll. Wo sie entlangschritt, sanken die versammelten Frauen auf die Knie und senkten demütig die Köpfe. Einzig die vermeintlichen Einherjer hinter ihren goldenen Masken rührten sich nicht, wie Thor mit einem verstohlenen Blick – und einem sonderbar irrationalen Gefühl von Erleichterung – feststellte. Auch er bewegte sich nicht.
Vielleicht hätte er es auch gar nicht gekonnt.
Ein Gefühl der Unwirklichkeit ergriff von ihm Besitz und lähmte nicht nur seine Gedanken, sondern auch seine Glieder. Dabei hätte er nicht überrascht sein dürfen. Es hätte weder ihres goldfarbenen Haars noch der deutlich sichtbaren Wölbung unter ihrem Kleid bedurft, um ihm klarzumachen, wer die Hohepriesterin dieses Kultes war. Ihre bloße Anwesenheit erfüllte den gesamten Raum und verwandelte dieses düstere unterirdische Gewölbe in einen Tempel.
Immer langsamer werdend näherte sich Urd dem Altar, hielt vor dem letzten Schritt einen schier endlosen Moment inne und hob dann in einer zeremoniell anmutenden Bewegung beide Hände ans Gesicht, um die Maske abzunehmen. Der gemurmelte Gesang verstummte für einen Moment, und ein allgemeines Seufzen und Raunen lief durch den Raum, als sie sich herumdrehte. Selbst Thor sog unter seiner Maske hörbar die Luft ein.
Er hätte nicht sagen können, worin die Veränderung bestand, aber er erinnerte sich nicht, Urd jemals so schön gesehen zu haben. Sie wirkte jünger und gereift zugleich, als hätten sich Mutter und Tochter nunmehr in einem Körper vereint. Ihre Züge, die ihm so vertraut wie eh und je und zugleich auf eine unmöglich in Worte zu fassende Weise neu erschienen, strahltendie Frische der Jugend und die Weisheit einer Göttin aus, aber in ihren Augen stand auch das Wissen der Unsterblichen geschrieben. Es waren Augen, an denen Jahrhunderte vorbeigezogen waren, die die Geburt und das Sterben von Generationen und ganzen Reichen erlebt und vielleicht das Entstehen der Welt geschaut hatten. Nichts konnte dem Blick dieser Augen verborgen beiben. Als sie für einen Moment auf der goldenen Maske vor seinem Gesicht verharrte, wusste er, dass sie ihn erkannte.
»Schwestern«, begann sie. Auch ihre Stimme hatte sich verändert und klang eine Spur sanfter, zugleich aber auch von der Kraft einer Göttin erfüllt, die jeden Widerspruch einfach undenkbar erscheinen ließ.
»Schwestern!« Sie hob
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