freeBooks Thor - Die Asgard-Saga Roman
»Wahrscheinlich hätte er es sogar getan, wäre Lif nicht gewesen, der eine Mutter brauchte.«
Thor wartete darauf, Entsetzen zu empfinden, Schrecken oder Abscheu oder auch Wut, aber nichts dergleichen wollte sich einstellen. Alles, was er empfand war ein tiefes Mitleid, ein Gefühl fast so übermächtig wie die Liebe, die er für seine neu geborene Tochter empfand. Für einen Moment spürte er Urds Schmerz wie seinen eigenen, und sein Magen zog sich in einem harten Ball aus Eis zusammen, angesichts der Ungeheuerlichkeit, die ihr angetan worden war.
»Er hat mir verboten, sie Lifthrasil zu nennen, und so habe ich sie nach meiner Mutter getauft. Aber er hat sie nie auch nur eines Blickes gewürdigt. Ich glaube, im Stillen hat er wohl darauf gewartet, dass sie stirbt.«
Thor fragte sich, warum sie ihm das nie erzählt hatte. In all der Zeit hatte sie nur sehr wenig über den Vater ihrer Kinder gesprochen, aber wenn, dann eher liebevoll oder doch zumindest in einem Ton großen Respekts. Vielleicht war die Erinnerung einfach zu schmerzhaft gewesen, sodass sie sie unter anderen – und möglicherweise falschen – vergraben hatte.
»Und jetzt hattest du Angst, ich könnte genauso reagieren.«
Urd schwieg. Ihr musste klar sein, wie sehr ihn die Vorstellung verletzte … aber er nahm sie ihr nicht einmal wirklich übel. Wenn jemand die Schuld daran trug, dann der, der ihr dieses Unvorstellbare angetan hatte.
»Nein«, behauptete sie nach einer Weile.
»Und das werde ich auch nicht«, sagte er unbeholfen. »Es ist unser Kind, Urd, und das ist alles, was zählt.«
Aber wenn er ganz ehrlich war, dann stimmte nicht einmal das. Ein Teil von ihm war froh, dass er eine Tochter bekommen hatte und keinen Sohn, der eines Tages zum Mann werden und nach dem Schwert greifen würde. Und da war noch etwas. Er spürte es tief in seinem Inneren. Was immer das Schicksal auch für ihn und seine Familie geplant hatte, Lifthrasils Geburt war der erste Schritt in die richtige Richtung.
»Ich habe mir immer eine zweite Tochter gewünscht, weißt du?«, sagte er. »Und ich bin ganz sicher, dass sie eines Tages genauso schön sein wird wie ihre Mutter.«
Urd sah ihn forschend an, aber er konnte nicht sagen, ob sie das in seinem Gesicht fand, wonach sie zu suchen schien. Immerhin versiegten ihre unsichtbaren Tränen.
»Wenn dir der Name nicht gefällt, dann wählen wir einen anderen«, sagte sie. »Vielleicht war es auch eine dumme Idee.«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein schöner Name. Und pasend.«
»Aber es ist ein Name, den ein anderer ausgesucht hat«, beharrte sie. »Das war dumm. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht.«
»Lif und Lifthrasil«, wiederholte er ihre Worte von vorhin. »Das klingt gut … und wie soll eine Hohepriesterin des Lichtgottes auch wissen, was ein einfacher Jäger denkt.«
»Der du nicht bist.«
Beinahe hätte er geseufzt vor Enttäuschung. Er hatte gewusst, dass sie auf dieses Thema kommen würde, aber insgeheim gehofft, dass es nicht so bald geschah.
»Wir müssen darüber reden«, beharrte sie. »Ich weiß, es istder falsche Moment, aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Vielleicht gar keine mehr.«
Das wusste er vielleicht besser als sie. Immerhin war er es, der ihr dieses kindische Ultimatum gestellt hatte. Worte waren so schnell heraus und konnten so viel Schaden anrichten, und es war so schwer, sie zurückzunehmen. Trotzdem wollte er nicht darüber reden. Nicht jetzt.
»Vielleicht gebe ich dir noch ein paar Tage Schonfrist«, sagte er, wenig erfolgreich um einen scherzhaften Ton bemüht. »Als Belohnung, weil du mir eine so wunderschöne Tochter geschenkt hast.«
Urd blieb ernst. »Bjorn und Sverig sind in der Stadt«, beharrte sie. »Sie suchen nach uns.«
»Stell dir vor, das habe ich auch schon gemerkt«, witzelte er. »Aber ich glaube, wir sind hier unten sicher. Wenn sie uns bisher nicht gefunden haben, dann kommen sie auch nicht mehr.«
»Um sie mache ich mir auch keine Sorgen«, beharrte Urd. »Aber sie sind nicht allein. Sie haben Männer bei sich, und ihr Heer ist nur noch wenige Tage entfernt. Und wenn es erst einmal hier ist –«
»– ist es zu spät für eure Pläne?«, fiel ihr Thor ins Wort. Gleichzeitig ließ er ihre Hand los und konnte sich gerade noch beherrschen, nicht aufzuspringen, rückte aber ein sichtbares Stück von ihr weg. »Es dürfte euch schwerfallen, die Stadt zu übernehmen, wenn Bjorns Krieger hier sind.«
»Du verstehst es immer noch nicht«,
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