freeBooks Thor - Die Asgard-Saga Roman
geworden. Während sie marschierten, hielt er sich unentwegt an der Seite seiner Mutter, aber er starrte ihn auch genauso unentwegt an;vor allem dann, wenn er glaubte, er sähe es nicht. Er nahm sich vor, den Jungen im Auge zu behalten. Und ihm besser nicht den Rücken zuzuwenden.
Das Wunder, auf das keiner von ihnen zu hoffen gewagt hatte geschah: Die Sonne stand weiter wie von einem unheimlichen Zauber gebannt am Himmel, doch nach ihrem persönlichen Zeitempfinden war es später Abend, als sie das kleine Wäldchen und den zerstörten Wagen wieder erreichten. Nicht nur ihm, sondern auch Urd musste klar sein, wie groß dieser Zufall war, denn es hatte nicht die mindeste Spur gegeben, der sie folgen konnten, aber der Wagen lag vor ihnen und damit nicht nur alles, was von Urds früherem Leben noch übrig geblieben war, sondern vielleicht auch ein winziges bisschen Hoffnung.
Sie und die beiden Kinder sanken fast sofort in den tiefen Schlaf der Erschöpfung, in dem sie sich im Windschatten des umgestürzten Wagens eng aneinanderkuschelten, und auch er selbst streckte sich auf seinem Mantel aus, schloss die Augen und versuchte den Schlaf herbeizuzwingen. Es gelang ihm, aber dieser Schlaf brachte so wenig Erquickung wie in der Nacht zuvor. Als er nach viel zu kurzer Zeit wieder erwachte, war er erschöpfter als vorher, und in seinem Kopf waren auch jetzt wieder die Erinnerungen an einen verworrenenen Traum, vor dem er regelrecht zurück ins Wachsein geflohen war.
Nachdem er eine weitere Stunde ruhelos auf und ab gewandert war und sich gefragt hatte, wie viel Zeit er Urd und ihren Kindern wohl mindestens geben musste, damit sie wieder zu Kräften kamen, kam ihm eine Idee. Sie erschien ihm zwar selbst beinahe haarsträubend, aber was hatte er zu verlieren außer ein paar Stunden, mit denen er ohnehin nichts anzufangen wusste?
Er arbeitete die ganze Nacht, die sich weder von den vorangegangenen noch dem nachfolgenden Tag unterschied, und als Urd sich irgendwann aufsetzte und sich den Schlaf aus den Augen rieb, überraschte er sie mit dem Anblick eines zweirädrigen Karrens, den er aus den Überresten ihres Wagens zusammengebaut hatte. Er sah weder besonders vertrauenerweckend aus, noch war er auch nur annähernd groß genug, um Urds Habseligkeiten und dazu auch noch die beiden Kinder aufzunehmen. Aber er würde seinen Dienst tun.
»Du erstaunst mich immer wieder«, sagte Urd. »Ich wusste nicht, dass du auch noch Wagner bist.«
»Hast du schon vergessen, dass dein Sohn mein Geheimnis durchschaut hat?«, gab er zurück. »Ich bin ein Gott. Ich kann alles.«
»Außer dich erinnern.« Sie beugte sich zuerst über ihre schlafende Tochter, dann über Lif, und ein flüchtiger Ausdruck von Zärtlichkeit erschien auf ihrem Gesicht. Er erwartete halbwegs, dass sie ihn wecken würde, doch sie streckte nur die Hand nach Elenia aus und ließ sie ein kleines Stück über ihrem Gesicht schweben, ohne sie zu berühren. Die Geste hatte etwas ungemein Beschützendes.
Beiläufig registrierte er, wie sauber ihre Hände waren … und wie unversehrt. Ihre Fingernägel waren nach wie vor gesplittert, aber ihre Fingerspitzen waren unberührt.
»Warum haben die Götter ihr das angetan?«, murmelte sie. In ihrer Stimme war kein Schmerz; allenfalls so etwas wie eine vage Bitterkeit, die kein rechtes Ziel zu finden schien.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich bin kein Gott, auch wenn dein Sohn mich dafür hält.«
Urd blickte auf ihre auf so sonderbare Weise geheilten Fingerspitzen hinab, sagte aber dann trotzdem: »Ich weiß.«
»Woher?«
»Weil es keine Götter gibt«, antwortete Urd. »Und wenn doch, dann sind nicht sie es, die verantwortlich dafür sind … weil wir Menschen ihnen vollkommen gleichgültig sind.«
»Und trotzdem hast du deinen Mann nach den Regeln deiner Götter bestattet?« Ihm wurde unbehaglich. Er wollte dieses Gespräch nicht führen.
»Es wäre sein Wunsch gewesen. Das war ich ihm schuldig.« Aber mehr auch nicht. Und eigentlich nicht einmal das. Urd stand auf, warf ihm noch einen seltsamen Blick zu und verschwand dann mit schnellen Schritten hinter den Büschen am Waldrand. Er sah ihr nach, bis ihm klar wurde, dass ihr diese Blickemöglicherweise peinlich waren, und wandte sich dann mit einem Ruck ab.
Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu, mit der er ohnehin fast fertig war. Jetzt, wo er keine Rücksicht mehr darauf nehmen musste, keinen Lärm zu machen, ging sie ihm noch schneller von der Hand. Er
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