Freiheit für Cyador
die Stirn, er würde zu gern wissen, wer der Verfasser dieser Worte war. Darm schüttelt er den Kopf und sucht nach etwas weniger Traurigem, doch das Beste, was er finden kann, ist die erste Strophe eines anderen Verses.
Tugenden aus alten Tagen bestehen fort.
Das Licht des Morgens kann nicht währen,
die Blütenblätter der Rosen vergehen bald.
Nicht so ein standhaftes Herz.
»Nicht so ein standhaftes Herz …«, murmelt Lorn. Ist sein Herz denn so standhaft? Er schüttelt den Kopf und wendet sich den Zeilen über Früchte und Birnen zu, wobei er sich an Ryalths Stimme erinnert, die die Worte an einem kalten Morgen vorlas, der aber trotzdem wärmer war als die meisten anderen.
Dann klappt er das Buch langsam zu. Ryalth hat ihn vor langer Zeit gefragt, was er denn von den Ehrwürdigen wisse.
Er weiß noch immer nichts, nur dass sie das Ende eines Zeitalters irgendwie vorherzusehen vermochten, das Ende eines Lebens, und das hat alle Verse und Gedichte in dem kleinen, scheinbar ewigen silbernen Buch gefärbt, das er in Händen hält.
XLVIII
N eben Lorn schimmert die Sperrenmauer weiß im Morgendunst des zweiten Patrouillentages. Es ist schon die zweite Patrouille für die Zweite Kompanie, seit Lorn aus dem Urlaub zurück ist und Ryalth auf dem Weg nach Cyad verabschiedet hat. Es ist zwar noch zu früh für eine Schriftrolle von ihr, aber er macht sich trotzdem Sorgen.
Er macht sich auch Sorgen um das Wetter und den Verwunschenen Wald. Dem kalten Regen ist Windstille gefolgt und eine Hitze, wie sie sonst nur zu Anfang des Sommers herrscht. Die Luft ist feucht und warm und aus Straße und Ödland steigt Dampf auf, so viel, dass Lorn kaum die Lanzenkämpfer der Zweiten Einheit ausmachen kann, die in einer Reihe zwischen Perimeter- und Mauerstraße reiten.
Lorn wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn, und das, obwohl er die Jacke schon hinter den Sattel gebunden hat. Augen und Chaos-Sinne konzentrieren sich auf die Sperrenmauer, denn das Chaos-Feld, das die Sperren aufrecht zu erhalten versuchen, ist wahrhaft chaotisch und scheint zeitweise nahezu zu verschwinden. Lorn dreht den Kopf nach links und ruft zu Shynt: »Sag den Männern, sie sollen gut aufpassen.«
»Ja, Ser.« Daraufhin ruft der Untertruppenführer laut: »Gebt gut Acht! Es könnte irgendwas im Nebel sein! Passt auf.«
Der Wallach trägt Lorn an der Sperrenmauer entlang und der Sonne entgegen. Lorn hat Mühe, im gleißenden Sonnenlicht den Chaos-Turm auszumachen, der vor ihnen liegen muss – und den umgestürzten Baum, von dem Lorn bereits weiß, dass er auf die Zweite Kompanie wartet. Dennoch müssen die zwei Einheiten noch ganze drei Meilen zurücklegen, bevor Lorn die Linie der Dunkelheit erkennt, die die Sperrenmauer kreuzt; dahinter ragt das weiße Granitgebäude des Chaos-Turmes aus dem Bodennebel, weniger als eine halbe Meile hinter dem gefallenen Stamm. Einige Sekunden lang studiert Lorn die Stelle in fast einer Meile Entfernung, an der der Baum den Granit der Sperrenmauer zerstört hat, und er bemerkt die weißen Rechtecke, die auf der Sperrenmauer verstreut liegen – es ist das erste Mal, dass Lorn so etwas sieht.
Er dreht sich im Sattel um und ruft zu Shynt: »In Fünferreihen formieren. Wir reiten zur Zweiten Einheit.« Seine Finger berühren die einzige Chaos-Lanze im Köcher – randvoll geladen und noch mehr.
»Ein umgestürzter Baum liegt vor uns. In Fünferreihen aufstellen, versetzt! Gebt es weiter!«, befiehlt der Untertruppenführer. »Fünferreihen!«
Lorn lenkt den Wallach fort von der Sperrenmauer und neben Shynts Pferd. Die Lanzenkämpfer der unterbesetzten Ersten Einheit stellen sich in Fünferreihen auf, während Lorn und Shynt an ihnen vorbeireiten. Shynt hat schließlich die Erste Einheit etwa eine viertel Meile von der Mauer entfernt formiert und ist nun auf dem Weg zu Kusyl und der Zweiten Einheit – die schon fertig formiert auf der Perimeterstraße steht –, als ein Bote auf Lorn zugeritten kommt; er zügelt das Pferd und nimmt es herum, um neben dem Lanzenkämpferhauptmann her zu reiten.
»Ser«, platzt der Bote heraus. »Truppenführer Kusyl lässt mitteilen, dass auf der anderen Seite des Chaos-Turmes noch ein Baum umgestürzt ist.«
»Noch einer?«, murmelt Shynt.
»Danke«, antwortet Lorn. »Sag ihm, dass wir auf der Perimeterstraße auf Höhe der Baumkrone zu ihnen stoßen werden. Und sag ihm auch, dass er sich fern halten soll, bis wir dort sind.«
»Ja, Ser.«
Der Bote
Weitere Kostenlose Bücher