Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
aus der Hand gerissen.
»Gib her, die gehört mir! Die hast du nicht anzufassen!«
Meine kleine Schwester schnauzt mich an, als sei ich eine Fremde, die gerade in ihr Allerheiligstes vorgedrungen ist.
Wie sie da vor mir steht! So viel kleiner als ich, aber bis zum Letzten entschlossen. Na, ich kann wohl schon froh sein, dass sie mich jetzt auf Türkisch anspricht. Und dass sie überhaupt mal mit mir redet. Mit den Eltern unterhalten sich alle meine Geschwister auf Deutsch. Die wollen das auch so, denn ich soll möglichst schnell die Landessprache lernen.
Wir leben in Eberstadt, das einst ein Bauerndorf war, nun aber von der nahen Großstadt Darmstadt geschluckt wird. In einem winzigen Fachwerkhaus, das ungefähr so breit ist wie unser Hühnerstall in Susurluk. Es hat zwei Etagen. Oben nutzen die Eltern ein Zimmer für sich allein, den Raum daneben teilen sich die drei Brüder. Die drei Mädels haben keinen Raum für sich selbst. Geschlafen wird unten, in Küche und Wohnzimmer. Nicht weiter schlimm, sage ich mir. Ich bin es ja nicht anders gewohnt, als auf einem Schlafsofa zu nächtigen.
Eine achtköpfige Familie, auf engstem Raum zusammengepfercht, fein säuberlich sortiert nach Erster und Zweiter Klasse: im Komfortbereich die Alten und die männliche Jugend. In der überfüllten Holzklasse brodelndes Familienleben und nachts das Camp der Mädels. Das konnte nicht gut gehen, mit einem zugestiegenen Passagier an Bord, der sich mit dem Mut der Verzweiflung in den fahrenden Zug gekämpft hatte. Ich komme mir vor, als hätte ich ein Schild um den Hals: Achtung Fremdkörper!
Oder wie eine Tretmine, um die jeder einen großen Bogen macht. Ja, liebe Leute, wo bleibt denn der vielbeschworene türkische Familiensinn?
Nun hatte Vater bereits eine größere Wohnung in Aussicht - auch Hatice sollte ja ein Jahr später nachkommen -, und es war absehbar, dass diese Wohnsituation irgendwann ein Ende haben würde. Doch innerhalb kürzester Zeit schaffte es unsere Familie, aus einer gemeinsamen Herausforderung das Problem einer einzigen Person zu machen. Es dürfte nicht schwer zu erraten sein, wer diese Person war.
Nachdem Naime, die zweitälteste Schwester, schon vorher das Weite gesucht und geheiratet hatte, war Aynur, die Älteste, die alleinige Chefin im Ring. Vom Alter her befand ich mich in der Mitte, emotional aber stand ich daneben. Ich hatte das Gefühl, es passte kein Blatt Papier zwischen Aynur und Cavidan.
Zunächst verhielten sich unsere Eltern gegenüber allen geschwisterlichen Grabenkämpfen neutral. Zunehmend aber bekam ich das Gefühl, als stellten sie sich immer mehr gegen mich. Mit Worten, Blicken und Gesten schienen sie mir mitzuteilen, dass die anderen die älteren Rechte hatten. Das machte mich sehr traurig, aber es war meine Art, nicht einfach den Nacken zu beugen, sondern dagegenzuhalten. Dadurch drehte ich an der Spirale gegenseitiger Entfremdung kräftig mit.
Es war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Was genau den Anlass bildete, weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Wahrscheinlich hatte ich wieder einmal meiner Mutter Widerworte gegeben, und sie beschwerte sich daraufhin bei ihrem Mann. Jedenfalls fegte er mich beim Abendbrot aus heiterem Himmel an:
»Wie kommst du dazu, so frech zu sein! Wir haben dich auf deinen eigenen Wunsch hin zu uns genommen, nun hast du dich auch unseren Regeln zu beugen!«
Es war einer dieser Wutausbrüche, die bei ihm nicht oft auftraten, wenn aber, dann gingen alle am liebsten in Deckung. Dies war der Moment, in dem ich eine rote Linie überschritt. Es war schon ein starkes Stück, eine mütterliche Erziehungsmaßnahme in Zweifel zu ziehen. Sich aber auch noch dem Familienoberhaupt offen zu widersetzen, das schien geradezu undenkbar. Die Grenze, die dazwischen lag, erschien einem jungen Ding, das nach Deutschland gekommen war, um die Welt zu erobern, allerdings ziemlich porös. Und ich war nicht auf den Mund gefallen.
»Ist es denn eine Gnade, bei der eigenen Familie leben zu dürfen?«
Das saß. Mein Vater starrte mich sekundenlang an. Doch er explodierte nicht. Er sagte - gar nichts. Verlegen, starr vor Schreck blickten alle anderen auf die Tischplatte. Ich sprang auf und stürzte zur Tür. Nur raus, raus!
Draußen, im lärmenden Verkehr der Durchgangsstraße, an der unser Häuschen lag, versuchte ich mich zu sammeln. Ich war ein ungebetener Gast - in der eigenen Familie! Kannte ich das nicht schon bis zum Überdruss -
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