Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
kleines Geplänkel weiter auf Touren.
»Na und«, bekomme ich zu hören, »du schaffst es vielleicht noch, deine täglichen Kalorien zu zählen. Aber für kompliziertere Rechnungen brauchst du deinen Steuerberater.«
Stimmt! Ich konzentriere mich lieber aufs Kreative und Unternehmerische. Zahlen haben es mir nicht so angetan.
Darmstadt, im Jahr 1984
»Ayşe, wie lautet der Satz des Pythagoras?«
Ich laufe dunkelrot an. Kann auf deutsch doch nur radebrechen. Was meint er jetzt schon wieder?
»Nix wissen«, stammle ich, »welche Pitta-Satz?«
Kichern in der hintersten Reihe, wo die frechsten Jungs sitzen. Neunte Klasse, eine Hauptschule in Darmstadt. Ich bin hier ins kalte Wasser geworfen worden. Von dem, was in den Schulstunden behandelt wird, habe ich wochenlang so gut wie nichts verstanden. Doch langsam scheint es besser zu werden. Und jetzt das! Ich weiß wirklich nicht, was der Lehrer von mir will. Welche Blamage! Die müssen ja denken, in der Türkei gäbe es nur die Klippschule!
Aber unser Klassenlehrer ist mir wohlgesonnen.
»Ruhe da hinten!«
Er kann schon eine laute Stimme haben, der gute Herr Eichler. Die Lästermäuler verstummen. Herr Eichler bittet meine einzige türkische Schulkameradin, die Frage zu übersetzen. Ceylan ist wirklich supernett. Sie redet mit mir immer wieder auch in unserer Muttersprache, um es mir leichter zu machen, und erklärt mir stets mit Engelsgeduld, was in den einzelnen Fächern gerade durchgenommen wird. Sie übersetzt mir sogar die Hausaufgaben.
Nachdem Ceylan mir die mündliche Aufgabe auch jetzt erläutert hat, atme ich erleichtert auf und wage einen neuen Anlauf in meinem holprigen Deutsch.
»Diese Satz wissen. A Quadat plusse B Quadat sein C Quadat.«
Beifall von den Mitschülern. Wer hätte das gedacht!
»Bravo, Ayşe. Du entwickelst dich ja noch zum Mathe-Genie.«
Das war natürlich maßlos übertrieben von meinem lieben Lehrer, aber sehr ermutigend! Überhaupt lobte er meine Fortschritte immer vor der Klasse. Er legte großen Wert darauf, dass die Mitschüler nicht lachten, wenn ich versuchte, einen deutschen Satz zu formulieren. Wir waren seine letzte Klasse vor der Pensionierung. Ich glaube, er war schon viel zu weise und gelassen, um sich noch groß aufzuregen. Mir erschien es phänomenal, dass meine schulischen Leistungen von einem Erwachsenen gewürdigt wurden. Und dass man mich sogar als Mädchen schulisch förderte. Nicht, dass dies in der Türkei nicht sein durfte, aber überall waren es doch die Jungen, die den besseren Part für sich zu haben schienen.
Ich bemerkte, dass es in Deutschland etwas gab, dem fast alles andere untergeordnet wurde: das Leistungsprinzip. Für mich warf das einen Hoffnungsstrahl in meine ansonsten ziemlich triste Existenz. Denn ich fühlte mich eigentlich stark und voller Tatendrang - bereit für ein neues Leben. Man müsste mir nur eine Chance geben!
Einmal in der Woche besuchte ich den Deutschunterricht für Ausländer. Es war klar, dass ich nur Vorteile haben würde, wenn ich die Landessprache möglichst schnell erlernte. Und das wollte ich! Anfangs büffelte ich die Sätze einfach, ohne sie zu verstehen. So hatte ich es in der Koranschule gelernt, auf diesem Gebiet konnte mir keiner etwas vormachen. Indessen: Zu verstehen, dass ich ja auch verstehen musste, was ich da hersagte, das musste ich erst
verstehen lernen! Das klingt nicht nur kompliziert, das war es auch. Aber ich lernte rasch.
Am Ende des Schuljahres hatte ich mir nicht nur passable Deutschkenntnisse angeeignet. Ich besaß jetzt auch den Hauptschulabschluss! Das war, verglichen mit anderen Gleichaltrigen, immer noch nicht viel. Doch für mich besaß dieses Zeugnis einen riesengroßen Wert. Ich weiß noch genau, was ich empfand, als es mir überreicht wurde. Eine ganz neue Erfahrung für mich: Ich fühlte mich gewürdigt .
Und dann kam Hatice! Im zurückliegenden Jahr hatte ich sie schwer vermisst. Ich fühlte mich so einsam. Meine Gefühlslage schwankte zwischen Trotz und Tränen. Die Isolation in der Familie hatte mich weichgekocht und alle Zwillingsrivalitäten vergessen lassen. Ich war nur froh und erleichtert, Hatice wieder bei mir zu wissen. Meine alte Verbündete. Meine andere Hälfte. Nicht ein einziges Mal in zwölf Monaten war es uns vergönnt gewesen, miteinander zu sprechen. Da in Babannes Haus eine so neumodische Einrichtung wie ein Telefon nie Einzug halten würde, musste sich unser Kontakt auf ein paar Briefe, eine
Weitere Kostenlose Bücher