Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
Geburtstagskarte und Grüße beschränken, die wir uns gelegentlich ausrichten ließen.
Und jetzt steht sie leibhaftig vor mir! Ich wundere mich selbst über meine übergroße Freude. Offenbar hatte ich unsere Verbundenheit gewaltig unterschätzt.
»Mensch, Hati, war das eine schlimme Zeit«, schniefe ich in mein Taschentuch, während wir unseren ersten Abendspaziergang durchs Viertel machen.
»Aber jetzt wird alles anders. Jetzt, wo du da bist.«
Hatice freut sich ebenfalls und knufft mich freundschaftlich in die Rippen.
»Wir beide gehören eben zusammen. Ich hab dich auch sehr vermisst. Es war ziemlich langweilig, ganz allein mit Babanne.«
Arm in Arm wie ein verliebtes Pärchen treten wir den Heimweg an.
»Jetzt zeigen wir allen hier, dass wir keine türkischen Dorftrutschen sind, okay?«
Doch es kam wieder einmal anders, als ich dachte. Ich sollte jetzt eine Erfahrung machen, die nicht sonderlich spektakulär war, die aber doch zu dem Wichtigsten gehört, was ich mein Eigen nenne.
Auch zwei Menschen, die durch ein so starkes inneres Band miteinander verbunden sind, wie es bei Zwillingen nun einmal der Fall ist, können sich auseinanderentwickeln. Das ist an sich keine großartige Erkenntnis, doch kann es einem der Beteiligten ganz schön schwerfallen, sich daran zu gewöhnen, während der andere es gelassen zur Kenntnis nimmt - oder gar nicht bemerkt.
Nach unserem großen Wiedersehen war zwischen uns zunächst alles Friede-Freude-Eierkuchen, doch unmerklich fielen wir in unsere alten Muster zurück. Hatice wurde von unserer Familie willkommen geheißen, sie war sofort beliebt und akzeptiert. Ich ertappte mich dabei, dass ich schon wieder auf sie eifersüchtig war. Aber etwas war jetzt doch anders. Ich konnte einfach nicht mehr sauer auf sie werden! Es bedrückte mich zwar, dass sie sogleich Anklang fand, wohingegen mir das bisher nie so recht gelingen
wollte, ja, das machte mir schwer zu schaffen - aber ich konnte es ihr einfach nicht übel nehmen. Nicht ihr persönlich.
»Sag mal, was hast du eigentlich, was ich nicht habe?«
Wir gehen wieder einmal um den Block, um uns ungestört aussprechen zu können. Ein kalter Novembernebel liegt über der Wiese hinter dem Kinderspielplatz, wo sich im Sommer die Jugendlichen treffen. Aber jetzt ist niemand da. Eine gute Gelegenheit, um mir etwas von der Seele zu reden, das mich seit Wochen beschäftigt.
Hatice hebt die Schultern und schaut mich nur mit fragenden Augen an.
»Was meinst du denn? Ich tu doch gar nichts.«
»Ja eben, das ist es ja. Du kommst hierher, und alle mögen dich und nehmen Rücksicht auf dich.«
Die Geschwister sprechen mit Hati sogar türkisch! Wieso hat man es mir so schwer gemacht und macht es ihr jetzt so leicht? Ich merke, es tut ihr leid, sie hat Schuldgefühle.
Ja, da waren sie wieder, die alten Muster. Und alle machten mit, die ganze Familie. Nur ich nicht mehr. Jedenfalls innerlich nicht. Und das war neu. Es war mir ein Rätsel. Ich war mir selbst ein Rätsel.
Der Mensch ist ein Wesen, geschaffen wie Tag und Nacht geschaffen wurden.
Nein, das stammt jetzt nicht von meiner Großmutter. Ich habe es in einem Sufi-Buch gelesen, das mir in einer Münchner Buchhandlung in die Hände fiel. Die Sufis! In meinem Heimatland und überhaupt in der islamischen Welt werden sie gegenwärtig nicht sonderlich geachtet, aber hier, in Deutschland, scheinen sie bei manchen Anklang
zu finden, denen die christliche Religion mittlerweile etwas zu trocken und blutleer erscheint. Ich finde, dieses Sufi-Wort sagt eine Menge über uns aus. In seiner Schlichtheit enthält es auf bestechende Weise eine tiefe Wahrheit.
Am Tag ist die Welt hell und durchschaubar, alles scheint uns offenzustehen. Nachts dagegen ist es dunkel, es gibt nicht viel zu erleben (vom sogenannten Nachtleben mal abgesehen), und die meisten von uns schlafen bis zum nächsten hellen Tag. Und jetzt die dahinter liegende Erkenntnis: Beschäftigen tun wir uns mit dem, was sich an der Oberfläche unseres Bewusstseins abspielt. Unser Unterbewusstsein, die dunkle und geheimnisvolle Seite unserer selbst, beachten wir so gut wie gar nicht. Doch tut sich dort eine Menge! Ich vermute, dort arbeitet unser seelischer Verdauungsapparat. Dort verarbeiten wir unbemerkt all das, was wir in unser Bewusstsein aufgenommen haben. Es ist wie mit der Nahrung: Sobald ich anfange, etwas anderes zu essen, verändert sich mein Körper. Mit unseren Eindrücken ist es genauso, nur eben auf seelischem Gebiet.
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