Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
bitten, nochmals bei ihm anzurufen. Und ich weiß auch, unter welchem Vorwand: um ihm die genaue Adresse in Susurluk mitzuteilen. Die braucht er zwar nicht wirklich, denn jeder hier könnte ihm sagen, wo das Haus unserer Familie steht. Aber es kann nicht schaden, noch einmal bei ihm nachzuhaken. Und wer wäre dafür geeigneter als Naile mit ihrer seriösen Stimme?
»Bitte, bitte, liebste Tante«, flöte ich sie an, »würdest du bitte noch mal bei meinem Wunschbräutigam anrufen? Durch
dich bekäme mein Werben einen offiziellen Anstrich, verstehst du?«
Natürlich versteht sie. Und sie steckt schon viel zu tief mit drin, um jetzt Nein zu sagen. Man stelle sich vor: Nicht der Vater wirbt für den Sohn beim Vater der Braut, sondern die Tante für die Nichte beim Bräutigam, damit dieser seinen Vater bittet, beim Brautvater anzufragen, ob dieser die Verbindung billigt! So weit hatte ich es schon geschafft, die Sitten und Gebräuche aufzumischen - allerdings ohne mich selbst vom Joch meiner Familie befreien zu können.
Mit meinem süßesten Lächeln versuche ich Naile in dieses verrückte Rollenspiel einzubinden. Ich gestehe: ohne Bedenken, ohne schlechtes Gewissen, jedenfalls in diesem Moment. Ein akuter Notstand!
»Sag Bekir, dass ich sehr verliebt in ihn bin und dass mein künftiges Leben allein von seiner Entscheidung abhängt. Und richte ihm allerliebste Grüße von mir aus.«
Ich glaube nicht, dass sie mir das wirklich abnahm. Und hoffe, dass sie es ihm so nicht gesagt hat. Immerhin: Das Band zwischen uns war so stark, dass sie weiterhin meinen rettenden Engel spielte. Meine wunderbare Tante will tatsächlich zum Nachbarn gehen und telefonieren! Zuvor zupfe ich sie noch am Ärmel:
» Güzel halacım , meine schöne Tante «, flüstere ich ihr verschwörerisch ins Ohr, »wenn alles klappt, mache ich dir auch eine tolle Frisur!«
Sie lächelt vieldeutig und geht.
Während sie drüben ist, liegen bei mir die Nerven blank. Wieder spreche ich in Gedanken mit Bekir.
Gib dir einen Ruck, bitte! Ich verspreche dir hiermit hoch und heilig: Wenn du jetzt Ja sagst, bekommst du die beste Ehefrau auf Erden.
Ich meinte es ernst! Und nicht nur in diesem Moment. Beim Leben unseres gemeinsamen Kindes: Ich schwöre, dass ich es auch wirklich nach besten Kräften versucht habe.
Was kann ich von Bekir erwarten? Wird er mir helfen? Und jetzt kommen die Bedenken.
Bekir, was mache ich eigentlich mit dir? Was tue ich dir an, wenn du mitspielst? Könnte ich dir überhaupt eine gute Frau sein?
Da war sie nun, die Gretchenfrage . Oder meine ganz persönliche Version davon. 1984, in der neunten Klasse Hauptschule in Darmstadt, da hat mich Goethes Drama einfach nur genervt. Aber jetzt, 1986, im Heiratsgefängnis von Susurluk, da fühlte ich mich plötzlich wie Gretchen und Faust zugleich, als Opfer und Täter in einer Person.
»Faust, wie hältst du’s mit der Religion?«
So fragte das Gretchen, wenn ich mich recht erinnere, und meinte doch wohl nur:
»Bitte, bitte, lieber Faust, friss mich! Aber vergiss auf gar keinen Fall, die Serviette zu benutzen!«
Das bringt mich zu unserem Propheten Muhammad. Völlig überraschend kam er einmal seiner - ausgerechnet jetzt nur leicht geschürzten - Traumfrau sehr nahe. Die Schöne war verheiratet … Da soll der große Mann in seiner Not ausgerufen haben:
»Gelobt sei Gott, der die Herzen der Männer wandelt!«
Es nutzte ihm nichts. Im selben Moment war er geliefert.
Nun, für mich ging es nicht um einen romantischen Traum, sondern um die allerletzte Chance für ein selbstbestimmtes Leben. Und das Schicksal nahm seinen Lauf, mit aller Unvermeidlichkeit, wie in einem echten Drama. Oder vielleicht sollte ich sagen: nach dem Drehbuch zu einer türkischen Seifenoper auf dem Dorf. Nur, dass es für alle Beteiligten harte, nackte Realität war.
Kein Problem für Allah!
T ante Naile bleibt noch ein paar Tage. Offiziell, weil sie sich spontan dazu entschieden hat, meiner Brautschau - ganz gleich welcher! - beizuwohnen. Inoffiziell, um mir zu helfen. Zwei Komplizenpaare belauern sich gegenseitig. Baba und Babanne haben mit mir seit unserer Ankunft kein einziges Wort gesprochen. Aber ich habe eine Verbündete. Nach außen hin spielt sie die neutrale Vermittlerin, aber in unbeobachteten Momenten steckt sie mir wertvolle Informationen zu.
»Dein Vater hat sich noch einmal mit der Familie des Mannes, den er für dich ausgesucht hat, in Verbindung gesetzt. Eigentlich war eure Hochzeit
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