Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
die Papiere hat er dabei.«
Ich lasse sie los. Muss erst einmal durchatmen. Sie spricht weiter, will sich offenbar rechtfertigen.
»Ich habe es befürchtet, denn sie haben in den letzten Wochen viel davon gesprochen. Deine Familie in Darmstadt, aber auch wir hier unten.«
Da ist es also heraus: ein Familienkomplott.
»Haben es tatsächlich alle gewusst?«
»Alle - bis auf Hatice. Bei ihr war man sich nicht sicher, ob sie dich nicht heimlich informieren würde.«
Aber das spielt jetzt alles keine Rolle mehr. Im Übrigen sind in einer Familie wie der unseren nur alle wie Figuren, die auf dem Schachbrett hin und her geschoben werden. Der Spieler, das ist der Patriarch.
Ja, ich sehe die Verhältnisse glasklar und schonungslos. Sitzen wir nicht alle in einem einzigen riesenhaften Spinnennetz, einem klebrigen Kokon aus gegenseitiger Entmündigung und Erniedrigung - genannt »Ehre«, »Tradition«, »Gehorsam« und wie der Namen alle sind …?
Viele Menschen, die sich schon einmal in höchster Not befanden, haben erlebt, was ich nun erlebte: dass man dann über sich hinauswächst. Dass man Kräfte und Fähigkeiten entwickelt, die man nie in sich vermutet hätte. Oder die man schon verloren glaubte. So wie ich, die stolze Ayşe, die unter massivem psychischen Druck zum verängstigten Opferlamm geworden war. Fast genieße ich das Adrenalin in meinen Adern, und mein Blick ist unbestechlich.
Schluss damit! Bulanık suda balık avlamak - du hast im Trüben gefischt, Vater! Aber nun werde ich deine Fische ins Wasser zurückbefördern, bevor du sie in der Pfanne braten kannst!
Ich bin zum Äußersten entschlossen und absolut klar im Kopf, obwohl mir das Blut in den Schläfen pocht. Kampf oder Flucht? Keine Frage: Diesmal werde ich kämpfen!
Aber … was soll ich tun?
Abhauen? Zwecklos. Sie werden mir auf den Fersen bleiben. Es würde ein endloser Nervenkrieg. Nein, ich muss sie abschütteln. Ein für alle Mal. Die ganze Meute.
Und da gibt es nur eine einzige Möglichkeit. Ein tollkühner Plan. Aber was habe ich zu verlieren? Und wenn es klappt: Dann bin ich noch einmal davongekommen.
Ich brauche … einen Mann! Einen, der mich vom Fleck weg heiratet.
Wo ist das nächste Telefon? Die Leute vom Kahwe gegenüber hatten doch immer eins. Schon bin ich drüben und
reiße die Tür auf. Und es gelingt mir tatsächlich, ein nettes Lächeln aufzusetzen.
»Hallo! Wie schön, euch wiederzusehen. Ich habe leider nicht viel Zeit, aber ich müsste schnell mal telefonieren. Darf ich?«
Etwas irritiert sind sie schon. Aber in Susurluk würde niemand einer Nachbarin eine Bitte abschlagen.
»Klar, du weißt ja, wo es steht.«
Ahmet, der Kahwefendi , deutet zum Nebenzimmer.
»Und wenn es nicht allzu lange dauert, brauchst du natürlich nichts zu bezahlen.«
Lange darf es sowieso nicht dauern. Ich spüre, dass mein Adrenalin nicht auf ewig fließen wird, und ich muss jetzt total überzeugend sein.
Die Nummer wähle ich aus dem Kopf. Es knackt ein paarmal in der Leitung … ich bin durch nach Deutschland. Und jetzt klingelt es bei ihm.
Allah, mach, dass er zu Hause ist!!!
»Bekir alo … - Bekir hier.«
Ich höre seine Stimme und fühle mich sofort wie ein Luftballon, aus dem jemand die Luft rausgelassen hat. Wie konnte ich mir nur einbilden, dieser Mann, mit dem mich nicht mehr verbindet als eine kurze Affäre, würde mich hier herausholen? Dass er sich Knall auf Fall ins Flugzeug setzen und zusammen mit seinem Vater hier aufkreuzen würde, um offiziell um meine Hand anhalten zu lassen? Nur so könnte es überhaupt funktionieren. Das wäre Tradition und Ehre im Doppelpack. Denn nur für noch mehr Tradition und Ehre, als er schon im Sack hatte, würde Turhan sich in letzter Minute noch umstimmen lassen.
» Alo, kim orde? - Hallo, wer ist da? «
Ich muss jetzt etwas sagen, verdammt. Aber was? In meinem Kopf ist nur noch eine große Leere.
»Bekir, hallo. Hier ist …«
»… Ayşe?«
Er hat meine Stimme sofort erkannt, obwohl die Verbindung schlecht ist und vorn im Kahwe der übliche Lärm herrscht.
»Ayşe, wo steckst du denn? Ich kann dich kaum verstehen. Bist du in der Türkei?«
Am besten, ich schildere ihm meine Lage frank und frei.
»Ja, ich bin in der Türkei, in meinem Heimatdorf. Aber nicht freiwillig. Weißt du, mein Vater …«
Ich komme nicht weiter, weil er mir ins Wort fällt. »… Du meinst, er hat dich entführt?« Das stimmt zwar nicht hundertprozentig, aber es ist eine willkommene Steilvorlage für
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