Freiheit statt Kapitalismus
Produktivität plus Inflationsrate steigen zu lassen, sollte als europaweite Untergrenze gelten. Überschussländer wie Deutschland könnten verpflichtet werden, ihre Löhne um mehr als diesen Level anzuheben, um die Sünden der Lohnpolitik der Vergangenheit auszugleichen.
Das europäische Sozialstaatsmodell war bisher nie Gegenstand europäischer Verträge. Vielmehr haben diese ihm Schritt für Schritt die Grundlage entzogen. Wenn Europa einmal das werden soll, als das es einst in den Proklamationen und Erklärungen gestartet ist, braucht es eine völlig neue vertragliche Grundlage. Eine solche zu schaffen wäredie Aufgabe der Gegenwart, wenn Europa eine gemeinsame Zukunft haben soll.
Neoliberaler Orkan
Es gibt also ein Programm zur Lösung der Eurokrise. Wenn es nicht umgesetzt wird, liegt das nicht daran, dass es nicht funktionieren würde. Es liegt daran, dass ihm starke Interessen entgegenstehen: die Interessen der Profiteure des heutigen Systems. Als 2008 die Finanzmärkte in sich zusammenstürzten, schienen sie auch den Glauben an den Segen unregulierter Märkte unter sich zu begraben. Viele haben damals ein Ende des neoliberalen Zeitalters prophezeit, eine Rückverschiebung der Gewichte von der Wirtschaft zum Staat, von der Deregulierung zur Regulierung. Diese Hoffnung war verfrüht. Das Gegenteil geschieht. Statt einer Überwindung der »neoliberalen Hegemonie« fegt ein neoliberaler Orkan über Europa hinweg, der jahrzehntelang erkämpfte öffentliche Leistungen und soziale Rechte mit einer Wucht zertrümmert, die er ohne das »Diktat der leeren Kassen« nie hätte entfalten können. Er zerstört alles, was von dem einstigen europäischen Sozialmodell noch übrig war. Wenn wir ihn weiter wüten lassen, steht Europa eine schlimme Zukunft bevor.
Wo nur noch der Profit regiert, bleibt auch kein Raum für Demokratie. Hatten Ludwig Erhard und die Ordoliberalen mit Verve für einen Staat plädiert, der stark genug ist, der Wirtschaft Regeln aufzuzwingen, gilt heute eine Politik als modern, die sich ihre Regeln von den Finanzmärkten diktieren lässt. »Marktkonforme Demokratie« hat die deutsche Kanzlerin diese Unterwerfung unter die Herrschaft der Banken und Spekulanten genannt. Regierungen, deren Credo darin besteht, das Vertrauen der Finanzmärkte zu gewinnen, sollten sich allerdings im Gegenzug über das schwindende Vertrauen ihrer Wähler nicht wundern. Mit diesem schwindet aber nicht nur das Vertrauen in die Politik, sondern in die demokratischen Institutionen insgesamt.
Störfaktor Demokratie
Finanzmärkte mögen Berechenbarkeit. Autoritäre Staaten mit korrupten Führungen sind viel berechenbarer als demokratische. Demokratiekann daher schnell zum Störfaktor werden. In zwei europäischen Ländern wurden mittlerweile Regierungen allein durch die Banken gestürzt. Die Wähler wurden nicht gefragt. Was das Ende des griechischen Ministerpräsidenten Papandreou besiegelte, war nicht seine Korruptheit und auch nicht der rücksichtslose Sparkurs, den er in seinem Land exekutierte. Sein politisches Todesurteil war die Idee, statt der europäischen Banken die griechische Bevölkerung über die Zukunft Griechenlands entscheiden zu lassen. Dass er daraufhin in der europäischen Presse zum Sinnbild eines unzurechnungsfähigen Verrückten wurde, zeigt an, wie tief der Stellenwert demokratischer Ideen in Europa bereits gesunken ist.
Auch Wahltermine verbürgen Unsicherheit, die es möglichst kleinzuhalten gilt. Etwa dadurch, dass – wie in Griechenland – sich alle größeren Parteien auf exakt das gleiche Programm verpflichten müssen. In Deutschland müssten sie es nicht, aber sie tun es trotzdem.
Wahlen, in denen es nichts mehr zu entscheiden gibt, sind keine Werbung für die Demokratie. Was als Farce empfunden wird, wird irgendwann auch nicht mehr verteidigt. Wie groß wird der öffentliche Aufschrei dann noch sein, wenn die Finanzmärkte irgendwann verlangen, den Störfaktor Demokratie ganz auszuschalten?
Vorsorglich wurde in einer amerikanischen Zeitschrift bereits die Möglichkeit erörtert, in Griechenland eine Militärdiktatur zu errichten. Es ist tatsächlich kaum vorstellbar, dass eine derart brutale Politik gegen die eigene Bevölkerung auf Dauer innerhalb demokratischer Strukturen durchsetzbar ist. Als der berüchtigte Hungerkanzler Brüning in den dreißiger Jahren die deutsche Wirtschaft in den Untergang sparte, waren die Tage der Weimarer Republik bald gezählt. Daher möge niemand
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