Freiheit statt Kapitalismus
sechs lange Jahre Leid, Angst und Tod gebracht und die frühere Industriemacht Deutschland in ein Trümmerfeld verwandelt.Die große Mehrheit der Bevölkerung hatte fast alles verloren: ihre Söhne oder Töchter, Geschwister oder Eltern, ihre Häuser, ihr Lebensumfeld, ihre Ersparnisse.
Der Kapitalismus war nach so viel Blut und Tränen gründlich diskreditiert. Selbst die gerade neu gegründete CDU betonte 1947 in ihrem Ahlener Programm: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden … Inhalt und Ziel einer sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.« 5
Erstes Fundament der sozialen Marktwirtschaft:
Ordnung statt Mitleid
Die Ordoliberalen gingen davon aus, dass eine durch strikte Regeln und ordentliche Sozialgesetze eingebundene Marktwirtschaft dem Allgemeinwohl nicht länger feindlich gegenübersteht, sondern ihm dienstbar gemacht werden kann. Sie sahen allerdings deutlich, dass die Sorge um den sozialen Ausgleich nicht dem Markt überlassen werden darf, sondern originäre Aufgabe des Staates zu sein hat. Wir sprechen von »sozialer Marktwirtschaft«, betont Müller-Armack, um zu verdeutlichen, »dass dies eben keine sich selbst überlassene, liberale Marktwirtschaft, sondern eine bewusst gesteuerte, und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft sein soll«. 6
Die Vertreter dieser Richtung machten sich daher stark für eine funktionsfähige gesetzliche Renten- und Krankenversicherung und eine menschenwürdige Absicherung bei Arbeitslosigkeit, also für all die Einrichtungen, die in der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre dann auch tatsächlich geschaffen, in den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten allerdings unter Mitwirkung aller Regierungsparteien (bei besonderem Einsatz der SPD) wieder zerschlagen wurden.
Wer heute Beschäftigte zu mies bezahlten Leiharbeitern oder Teilzeitjobbern ohne Schutz degradiert, wer Arbeitslose ins Hartz-IV-Elend verbannt und vom Angebot der Tafeln und Suppenküchen abhängig macht, hat auf jeden Fall Walter Eucken gegen sich, der für eine ordentliche Verfassung des Arbeitsmarktes und der Betriebsverfassung mitder Begründung plädierte: »Die Arbeiter und alle, die sich in Abhängigkeit oder Not befinden, können mehr verlangen als Mitleid, Mildtätigkeit oder sozialpolitische Hilfe von Fall zu Fall. Sie haben Anspruch auf eine Ordnung, die … ihnen und ihren Angehörigen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.« 7
Wer Mindestlöhne bekämpft, kann sich dabei nicht mit den Meriten eines sozialen Marktwirtschaftlers schmücken, denn für Müller-Armack stand fest: »Es ist marktwirtschaftlich durchaus unproblematisch, als sogenannte Ordnungstaxe eine staatliche Mindestlohnhöhe zu normieren.« 8 Wer seit nunmehr zehn Jahren sinkende Reallöhne politisch absichert, sollte sich besser nicht auf Ludwig Erhard berufen, der unmissverständlich klargestellt hatte: »Der Tatbestand der sozialen Marktwirtschaft ist vielmehr nur dann als voll erfüllt anzusehen, wenn entsprechend der wachsenden Produktivität … echte Reallohnsteigerungen möglich werden.« 9 Auch wer endlose Exportüberschüsse mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit verwechselt, könnte seine ökonomische Kompetenz durch einen Blick in Euckens
Grundsätze
aufbessern, in denen der Freiburger Ökonom den eigentlich selbstverständlichen Sachverhalt erklärt: »Jeder Export schädigt die Güterversorgung, der nicht die Einfuhr mindestens gleichwertiger Güter ermöglicht.« 10 Und anders als die wildgewordenen Privatisierer und Deregulierer der Gegenwart wusste Ludwig Erhard: »… ein moderner und verantwortungsbewusster Staat kann es sich einfach nicht leisten, noch einmal in die Rolle des Nachtwächters zurückversetzt zu werden«. 11
Zweites Fundament der sozialen Marktwirtschaft:
Verhinderung wirtschaftlicher Macht
Aber das Plädoyer für eine soziale Bändigung des Kapitalismus macht nur die eine Säule des ordoliberalen Lehrgebäudes aus. Die vielleicht noch wichtigere, weil tragende bestand in der Einsicht in die
Bedingungen
, die gewährleistet sein müssen, damit der Kapitalismus überhaupt sozial- und ordnungspolitisch gebändigt werden kann. Die wichtigste Bedingung dafür besteht nach Auffassung der Ordoliberalen darin, die Entstehung wirtschaftlicher Machtpositionen privater Unternehmen zu
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