Freiheit statt Kapitalismus
glauben, dass derartige Dammbrüche heute folgenlos bleiben. Weit wahrscheinlicher ist, dass sie irgendwann das Gesicht ganz Europas zur hässlichen Fratze verzerren werden.
Die postdemokratische und postsoziale Gesellschaft, auf die wir zusteuern, ist Kapitalismus pur. Ein Kapitalismus ohne Mäßigung, ohne Rücksichten, ohne Fesseln. Ein Kapitalismus, der noch etwa einem Prozent der Bevölkerung nützt und die Lebensqualität aller anderen untergräbt, die der Beschäftigten genauso wie die von kleinenund mittleren Unternehmern. Ein Kapitalismus, der längst nicht nur sozial, sondern auch vor seinen eigenen Ansprüchen versagt. Ein Kapitalismus, mit dem wir uns nicht abfinden dürfen.
Fazit
»Unter allen Völkerschaften haben die Griechen den Traum des Lebens am schönsten geträumt«, schrieb Goethe, zeitlebens ein Bewunderer der griechischen Kunst und Literatur. Dieser »Traum des Lebens« hat in dem politischen und wirtschaftlichen Europa der Gegenwart keinen Platz mehr. Auf keinem der endlosen Eurogipfel der letzten Jahre waren die Traditionen des klassischen Humanismus und der europäischen Aufklärung und der daraus ableitbare Anspruch auf menschenwürdige – dem Menschen würdige! – Verhältnisse in Europa ein Thema. Stattdessen wurden und werden Programme beschlossen, die den Wohlstand ganzer Länder zerstören, Millionen Menschen in Armut und Verzweiflung stürzen und Europa immer tiefer spalten.
Die europäischen Staatsschulden sind nahezu ausschließlich Produkt der neoliberalen Ära. Sie entsprechen den nicht mehr gezahlten Steuern der Reichen und den verlorenen Finanzwetten der Banken. Schulden, die auf diese Weise entstanden sind, muss man nicht bedienen, sondern streichen. Für die Verluste sollten jene Vermögen haften, die ihr schnelles Wachstum ebenfalls der neoliberalen Ära verdanken, die Vermögen der Oberschicht.
Der »Traum des Lebens« der griechischen Antike sollte uns allerdings auch erinnern, dass es um mehr geht als um Schulden und Vermögen. Um mehr als um den größtmöglichen materiellen Wohlstand einer möglichst großen Zahl. Es geht um eine Gesellschaft, die dem Menschen gestattet, Mensch zu sein. Der hyperflexible Bürger des modernen Kapitalismus, der Tag für Tag im Dienste der Rendite schuftet, der sein Leben nicht mehr planen kann, weil er sich von einem befristeten Job zum nächsten hangelt, und der nach endlosen Überstunden zu müde ist, auch nur darüber nachzudenken, ob er wirklich so leben will, wie er lebt, steht in tiefem Kontrast zu den besten europäischen Traditionen des Bürgertums, die von einer prokapitalistischen Bürgerlichkeit vergessen wurden.
Eine Gesellschaft, die die wertvollsten Eigenschaften des Menschen – Liebesfähigkeit, Sehnsucht nach sozialen Bindungen, nach Würde und Schönheit – verkümmern lässt und seine schlechtesten – Habsucht, Egoismus, soziale Ignoranz – gnadenlos kultiviert, ist dem Menschen nicht würdig. Auch deshalb ist die europäische Idee in dem Europa der Gegenwart tot.
Wenn sie je wieder leben soll, brauchen wir den Mut zu einem europäischen Neuanfang, den Mut zu einer neuen wirtschaftlichen Ordnung und zur Wiederherstellung der Demokratie in Europa.
DAS GEBROCHENE
VERSPRECHEN
LUDWIG ERHARDS
Das gebrochene Versprechen Ludwig Erhards
»… dass ich eine Wirtschaftsverfassung anstrebe, die
immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu
Wohlstand zu führen vermag. Am Ausgangspunkt stand
der Wunsch, über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft
die alte konservative soziale Struktur endgültig zu
überwinden.«
Ludwig Erhard, deutscher Wirtschaftsminister und Bundeskanzler
Was ist neoliberal? Wer diesen Begriff heute benutzt, verbindet ihn in der Regel mit einer Politik, wie wir sie aus den letzten Jahrzehnten kennen: einer Politik der enthemmten Marktfreiheiten, die soziale Schutzwälle einreißt und staatliche Regeln verwässert, einer Politik, die großen Konzernen das global vorteilhafteste Umfeld bietet, um noch größer und mächtiger zu werden, und die unter dem Motto »Privat vor Staat« alles auf den Markt wirft, was Profite verspricht, selbst wenn es sich dabei um menschliche Grundbedürfnisse wie die nach Bildung, Alterssicherung und gesundheitlicher Betreuung oder die Versorgung mit Wohnraum, Wasser, Strom und Wärme handelt.
Neoliberalismus 1.0
Kaum jemand weiß heute noch, dass der Begriff »neoliberal« vor einem Dreivierteljahrhundert als erklärtes Gegenprogramm zu einem
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