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Freiheit statt Kapitalismus

Freiheit statt Kapitalismus

Titel: Freiheit statt Kapitalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sahra Wagenknecht
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    Die gewaltige Brüsseler Lobbyindustrie begann sich in den späten achtziger, frühen neunziger Jahren zu etablieren, just zu der Zeit, als die Europäische Kommission sich anschickte, mit rund dreihundert Gesetzen das Grundgerüst des gemeinsamen europäischen Marktes auszuarbeiten. Eine der mächtigsten Brüsseler Lobbys, die an der Ausgestaltung dieses Projekts besonders erfolgreich mitgewirkt hat, ist der 1983 gegründete European Roundtable of Industrialists (ERT). Dabei handelt es sich um den exklusiven Club der Vorstandsvorsitzenden der 45 größten europäischen Industriekonzerne, die zusammen für eine Wirtschaftsleistung von über 1600 Milliarden Euro stehen und allein in der EU 4,5 Millionen Menschen beschäftigen.
    Bereits während des Prozesses, der 1987 zur Einheitlichen Europäischen Akte und damit zum Gesetzesrahmen für den Gemeinsamen Markt führte, spielte der ERT eine wichtige Rolle. 1985 lancierte der damalige Vorsitzende des Industriellenclubs und gleichzeitige Boss des Philips-Konzerns, Wisse Dekker, einen sorgfältig ausgearbeiteten Fünfjahresplan zum Abbau aller Handelsschranken und zur Abschaffung aller fiskalischen Handelshemmnisse im europäischen Wirtschaftsraum. Aus dieser ERT-Vorlage wurde per Copy-and-Paste wenige Monate später ein offizielles Dokument der Kommission, nämlich das Weißbuch des Industriekommissars Cockfield, dessen Kerninhalte sich schließlich in der Einheitlichen Europäischen Akte wiederfanden. Die einzige Differenz zum Plan des ERT bestand darin, dass der Termin zurVollendung des Binnenmarktes um zwei Jahre nach hinten verschoben wurde: von 1990 auf 1992.
    Nach Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte gründete der ERT ein Internal Market Support Commitee, dessen Vertreter zwischen 1987 und 1992 in nimmermüder Beständigkeit mit Regierungs- und Kommissionsvertretern konferierten. Ergebnis dieser Bemühungen war der Maastricht-Vertrag, der deutlich erkennen ließ, dass die Industriellenlobby Zeit und Geld nicht umsonst investiert hatte. Die EU wurde mit den Vorgaben von Maastricht auf einen Kurs festgelegt, der gänzlich den Interessen der großen Wirtschaftsunternehmen entsprach und ihnen eine Phase der Expansion und beispielloser Profitmöglichkeiten eröffnete, ihre wirtschaftliche Machtstellung auf den europäischen Märkten erheblich stärkte und damit auch ihre Fähigkeit zum Diktat des politischen Geschehens für die nächsten Jahrzehnte zementierte. In einem Fernsehinterview von 1993 räumte der damalige Kommissionspräsident, der französische Sozialdemokrat Jacques Delors, einen »ständigen Druck« des ERT auf die Vertragsgestaltung ein und bestätigte, dass dieser Club der Großindustriellen »eine der Haupttriebkräfte hinter dem Binnenmarkt« gewesen ist. 110
    Zum Dank für so viel Mitgestaltungsfreude wurde 1995 der informelle Zugang des European Roundtable of Industrialists zu den EU-Behörden institutionalisiert: durch die Schaffung einer Competitiveness Advisory Group, die seither in regelmäßigen Abständen Berichte über die »Wettbewerbslage« in der EU verfasst. Dass in diesen »Wettbewerbsberichten« die wachsende Marktmacht weniger Anbieter kein Thema ist, wohl aber profitstörende staatliche Regeln in einzelnen Mitgliedstaaten, versteht sich.
    Legale Korruption
    Die Kanäle, mit denen sich Wirtschaftsinteressen ihren Weg in die Politik bahnen, sind mit den geschilderten allerdings noch längst nicht erschöpft. Eine wichtige Rolle spielt auch die völlig legale Korruption nach dem Motto: Bezahlt wird später. Ehemalige Minister, Staatssekretäre und Abteilungsleiter, die sich besondere Verdienste um die Profitinteressen einer oder mehrerer Wirtschaftslobbys erworben haben,fallen weich, wenn die politische Laufbahn einmal endet. Manche wechseln an einem bestimmten Punkt ihrer Biographie auch aus freien Stücken in die Wirtschaft. Die einst begünstigten Branchen stellen dann gern Vorstands- oder Beraterpöstchen zur Verfügung, auf denen die Betreffenden einmal im Leben richtig Geld verdienen können.
    Die Beispiele für solche Politik-Nachfolgekarrieren sind Legion. Am höchsten ist ihre Quote interessanterweise bei ehemaligen Mitgliedern der rot-grünen Schröder-Fischer-Regierung. Das betrifft nicht nur den Kanzler und seinen Außenminister, die sich heute bei konkurrierenden Gaspipeline-Projekten goldene Nasen verdienen. Es betrifft auch den ehemaligen Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang

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