Freiheit statt Kapitalismus
nur so groß geworden, dass der Staat sie vor dem Zusammenbruch retten musste, sie besaßen auch so viel politische Macht, dass die Regierung ihnen keine Beschränkung mehr auferlegen konnte,« 113 schreibt Stiglitz. Im Englischen gibt es einen speziellen Terminus für die Fähigkeit der Wirtschaft, die ökonomische Regulierung durch den Staat zu ihren Gunsten zu gestalten:
regulatory capture
. Regulatorische Gefangennahme. Womit können private Institutionen den Staat gefangen nehmen? Ganz einfach: mit ihrer Fähigkeit, durch privatwirtschaftliche Entscheidungen das ökonomische Leben großer Regionen, ja ganzer Volkswirtschaften zu verändern und im schlimmsten Fall zu zerstören.
Wenn der Handwerksmeister mit fünf Angestellten bei dem Kämmerer seiner Kommune vorstellig wird und droht, ohne staatliche Hilfsgelder keine defekte Wasserleitung in der Gemeinde mehr zu reparieren, erntet er bestenfalls ein müdes Lächeln und im schlechtesten Fall den sofortigen Rauswurf. Seine Erpressungsmacht ist gleich null, denn es gibt genügend andere Handwerksmeister, die seinen Job mit Freude übernehmen. Wenn eine der größten Banken eines Landes droht, ohne Steuermilliarden und ohne Befreiung von jeder ernsthaften Regulierung noch weniger Kredit an die örtliche Wirtschaft zu vergeben,lächelt kein Finanzminister und auch kein Regierungschef mehr. Denn die Folgen können von keiner anderen Bank aufgefangen werden. Das ist der Unterschied. Und das gilt nicht nur für Banken.
Wenn ein Bäcker droht, ohne Subventionierung der Brötchenpreise keinen neuen Backofen anzuschaffen und zwei Bäckerlehrlinge auf die Straße zu werfen, wird er deshalb längst noch keinen Cent bekommen. Wenn ein Konzern mit Milliardenumsätzen und mehreren hunderttausend Beschäftigten droht, einen Betriebsteil stillzulegen, von dem eine ganze Region direkt oder indirekt lebt, kriegt er alles oder zumindest fast alles, was er haben will.
Die deutsche Automobilindustrie etwa besteht aus vier großen Autobauern: Daimler, BMW, VW, zu dem jetzt auch Porsche gehört, und Opel, der Tochter des General-Motors-Konzerns. Wenn in diesen vier Großunternehmen die Produktion um ein paar Prozentpunkte sinkt, hat das wegen der weitverzweigten Abhängigkeiten ihrer Zulieferer und deren Zulieferer dramatische Konsequenzen für die gesamte Volkswirtschaft: Nach Berechnungen des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut genügt ein 15-prozentiger Produktionseinbruch bei den Autoherstellern, um die deutsche Wirtschaftsleistung um 2 Prozent nach unten zu drücken, etwa 2 Millionen Menschen um ihren Arbeitsplatz zu bringen und die Steuereinnahmen um 20 Milliarden Euro abzusenken.
Gesellschaften in Geiselhaft
Wenn vier private Unternehmen mit ihren Investitions- und Produktionsentscheidungen über die Leistung einer ganzen Volkswirtschaft, über Millionen Arbeitsplätze und Milliarden an Steuereinnahmen entscheiden, sollte sich niemand wundern, wenn die, die in diesen Unternehmen das Sagen haben, die Politik nach ihrer Pfeife tanzen lassen können. Insofern war es kein Zufall, dass die Krise von 2009 kaum mit zusätzlichen öffentlichen Investitionen und gar nicht mit mehr öffentlicher Beschäftigung bekämpft wurde, sondern vor allem mit gezielter Absatzförderung für diese vier Konzerne. Ganze 5 Milliarden Euro ließ sich der deutsche Staat die Abwrackprämie kosten, die zur massenhaften Verschrottung fahrtüchtiger Automobile führte.Aber wen kümmert die (sehr unkreative!) Zerstörung solider volkswirtschaftlicher Werte, solange das Ziel, die Profite der Autogiganten in einer Situation wegbrechender Exportnachfrage zu stabilisieren und so die Produktion hochzuhalten, erreicht wird?
Nur bei VW hat die öffentliche Hand dank Landesanteil und VW-Gesetz ein Minimum mitzureden. Ansonsten befindet sich dieser Machtblock der vier Autobauer ausnahmslos in privater oder ausländischer Hand. Neben institutionellen Investoren, die vor allem bei Daimler und jetzt auch wieder bei GM dominieren, gehören zu den Eigentümern mehrere steinreiche Familienclans: die Quandts und die Klattens sowie die Porsches und die Piëchs. Verhältnisse, in denen vier Familien und einige spekulationsfreudige Finanzvehikel die Macht besitzen, das Auf und Ab des Bruttoinlandsprodukts eines großen und reichen Industrielandes zu dirigieren, sollte eigentlich niemand für demokratisch halten.
Macht über Meinung und Leben als Familieneigentum
Wirtschaftseigentum gebiert Macht, hochkonzentriertes
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