Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer
Sonntagsgeläut auf Band aufgenommen und die Abstände zwischen den Glockentönen vermessen, um die geheime Botschaft darin zu entschlüsseln. Er hat exakt bestimmt, um welche Uhrzeit die Straßenlampen seiner Straße aufflammen. Er hat monatelang den Kleinanzeigenteil der beiden Heimatzeitungen studiert, um den geheimen Unregelmäßigkeiten in den Chiffre-Nummern auf die Spur zu kommen. Sicher, so gibt er zu, das klingt alles sehr unwahrscheinlich, er würde es anderen auch nicht glauben, aber er hat viele Jahre Beweise gesammelt. Ein überquellender Schrank voller Aktenordner mit Berechnungen, Dokumenten, Zeitungsausschnitten und Briefen beherrscht sein Arbeitszimmer, und auf seinem Schreibtisch türmen sich Papiere, die noch der Einordnung harren.
Jede Zeitung, jede Polizeistation, jeder Politiker kennt diese Menschen. Viele von ihnen sind nach medizinischen Maßstäben krank, aber oft fehlt ihnen die Krankheitseinsicht. Wenn jemand über Jahre ein Wahnsystem aufgebaut und kultiviert hat, findet auch ein erfahrener Psychiater nur schwer Zugang zu ihm. Doch Wahnkranke ohne weitere Erkrankungen wie Depression oder Schizophrenie meistern ihren Alltag manchmal erstaunlich gut und sind deshalb nicht unbedingt auf ärztliche Hilfe angewiesen. Außerhalb ihres Wahnsystems handeln sie durchaus rational und angemessen. Manche aber entwickeln eine regelrechte Besessenheit.
Sie können ihren Beruf nicht mehr ausüben und auch ihr Privatleben gerät völlig aus den Fugen. Viele finden erst dann, und oft auch nur auf Druck ihrer Angehörigen, den Weg zum Arzt.
Der Verfolgte fühlt sich eingeengt, beobachtet und bedrängt. Die Verschwörung,
seine
Verschwörung gehört zu seinem eigenen kleinen Mikrokosmos. Sie mag die Welt bedrohen, aber in erster Linie bedroht sie
ihn
.
Der besessene Aufklärer
Er ist einer ganz großen Verschwörung auf der Spur. Er nervt seine Familie, seine Freunde und seine Kollegen so lange damit, bis sie nichts mehr davon hören wollen. Er fährt zu den Orten, die er als Brennpunkte identifiziert hat, und macht dort heimlich Fotos. Er sammelt Literatur, bis sich in seinem Arbeitszimmer kein freier Raum mehr findet. Und er schreibt ein Buch, in dem er mit Hunderten von Zitaten akribisch die Richtigkeit seiner Thesen nachweist.
Besessene Aufklärer tragen einen beträchtlichen Teil zu den Stapeln unverlangter Manuskripte bei, die die Postboten Tag für Tag bei den großen Buchverlagen abliefern. Durch die höflichen vorgedruckten Ablehnungen lassen sie sich nicht entmutigen. Entweder finden sie schließlich einen obskuren Verleger, der ihre Bücher vertreibt, oder sie gründen selbst einen Verlag. Die besessenen Aufklärer haben mit Aufkommen des Internet natürlich eine einfache Möglichkeit bekommen, ihre Werke der Welt zugänglich zu machen. Trotzdem stößt man im Netz kaum auf kostenlose Verschwörungsbücher. Besessene Aufklärer möchten nämlich mit ihren Büchern Geld verdienen.
Eine besondere Variante der besessenen Aufklärer sind die betrügerischen Aufklärer. Der Spektakulärste unter ihnen ist sicherlich der Pariser Buchhändler und Schriftsteller Gabriel Jogand-Pagès, der seine Bücher unter dem Namen Leo Taxil veröffentlichte. Zunächst
erfand er für eine »Liga der Antiklerikalen« frei erfundene Insider-Berichte über die angeblichen Laster katholischer Geistlicher. 1885 konvertierte er unerwartet zum Katholizismus und bekannte mit großer Geste seine bisherigen Sünden. Noch im selben Jahr veröffentlichte er ein Enthüllungsbuch über die Freimaurer, deren Mitglied er von 1881 bis 1884 gewesen war. Möglicherweise wollte er sich dafür rächen, dass die Freimaurer ihn wegen ehrenrührigen Benehmens vor die Tür gesetzt hatten, vielleicht wollte er aber auch nur Geld verdienen.
In jedem Fall hängte er den Freimaurern die blutigsten Untaten und natürlich ausschweifende sexuelle Orgien an. Der Teufel persönlich sei bei den satanischen Riten der Freimaurer zugegen, so behauptete Taxil. Das Publikum wusste seine Erfindungen zu schätzen: Sein Buch erlebte binnen kurzer Zeit 40 Auflagen. Papst Leo XIII . empfing Taxil in Privataudienz und bat ihn um die Fortsetzung seiner Aufklärungsarbeit. Taxil ließ sich nicht lange bitten und legte nach: 1892 veröffentlichte er sein neues, phantasievoll bebildertes Buch unter dem Titel
Die Geheimnisse der Freimaurer
. Darin warf er den Freimaurern unter anderem Hostienfrevel vor, ein ebenso alter wie unsinniger Vorwurf gegen die
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