Freitags Tod
Blick auf die Nummer werfen. Umständlich kramte sie nach dem Apparat, entsperrte die Anzeige, schaute aufs Display … Conrad.
Na, endlich. Sie drückte die Kurzwahltaste. »Wo warst du?«, fragte sie und vergaß die Badewanne augenblicklich.
»Hier.«
»Wo hier?«
»Hier in Brenzlin. Goldener Stern heißt das Ding. Was glaubst du? Meinst du, ich bin ausgewandert?«
»Ehrlich gesagt, habe ich den Gedanken einen Moment verfolgt. Gibt’s da ein Netz oder hat der Gott der Telekommunikation diese Gegend völlig vergessen?«
»Sehr witzig heute, wie?«
»Nein, eigentlich nicht. Gerade hab ich …«
Conrad unterbrach sie. »Erst ich. Du wirst es nicht glauben, aber Sophie Freitag ist bei Tom Sebald reingeschneit, und ich habe zufällig ihr Geständnis mitgehört und …«
»Hör auf!« Bitte, bitte kein weiteres Geständnis, flehte Julia still.
»Was ist denn los? Lass mich doch erstmal erzählen.«
»Nein. Ich will nichts mehr hören von Geständnissen. Ich habe noch nie so viele Geständnisse bekommen, wie in diesem Fall.«
»Oh«, machte Conrad und schwieg kurz. »Wer noch?«
»Hedwig Freitag.«
»Das darf nicht wahr sein!«
»Du sagst es. Die Familie scheint sich um die Täterschaft geradezu zu reißen. Sind die eigentlich noch ganz dicht? Die Witwe ist es auf keinen Fall«, beantwortete Julia ihre Frage selbst. »Sie neigt zu Tätlichkeiten, behauptet, sich umbringen zu wollen, wenn wir ihren Sohn nicht aus der Haft entlassen, und dass sie die Augen des Opfers habe. Marc versucht gerade, eine Zwangseinweisung zu erreichen. Zunächst bleibt sie in der Zelle, wer weiß, wann einer von den Docs zu erreichen ist.«
Stille.
»Hallo?«
»Ja.«
»Ich dachte, du wärst schon wieder weg. Schwing dich in deine Karre, Conrad, und komm her. Wir haben hier alle Hände voll zu tun.«
»Das geht nicht.«
»Nenn mir einen vernünftigen Grund, der dagegenspricht.«
»Sophie Freitag hat nicht mir, sondern Tom Sebald den Mord gestanden, dann ist sie abgehauen, und ich habe eine Fahndung eingeleitet. Wolf Seidel hat das getan, besser gesagt. Außerdem habe ich die Tatwaffe in ihrem Rucksack gesehen. Ich kann jetzt nicht einfach abhauen, und die hier machen lassen. Außerdem ist Tom auch weg. Keine Ahnung wohin. Vielleicht hilft er ihr. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, was ich denken soll.«
Julia starrte durch die Windschutzscheibe auf den fast leeren Parkplatz. Ein Streifenwagen rollte durch die Einfahrt und parkte direkt neben dem Hintereingang des Polizeigebäudes.
»Ich auch nicht«, sagte sie in den Hörer. »Eine Tatwaffe habe ich auch von Henry, wie du weißt.« Sie schwieg einen Moment. »Ich bin sehr müde.«
»Du musst ein paar Tage ausspannen, Julia.«
»Toller Tipp«, sagte sie. Ihr fehlte die Kraft, um mit Conrad zu streiten. Sicher nahmen die Ermittlungen die nächsten Wochen in Anspruch, und ihr Urlaub rückte in weite Ferne. Conrad räusperte sich.
»Morgen spreche ich noch einmal mit Tom Sebald, falls er wieder auftaucht, wenn nicht, fahre ich zurück.«
»Melde dich mal. Ich krieg dich immer nicht.«
»Alles klar.«
24
Tom streichelte Sophies Schulter, spürte ihr leichtes Zittern. Der Tag hatte einen ganz anderen Verlauf genommen, als er sich hätte ausmalen können. Behutsam nahm er Sophie den Rucksack aus der Hand, stellte ihn auf den Boden, dann setzte er sich mit ihr auf die Matratze.
»Hör zu«, sagte er. »Bleib erstmal eine Weile hier. Hier bist du sicher heute Nacht. Dann können wir immer noch überlegen, wie es weitergehen soll, ja?«
Sophie hielt sich die Hände vors Gesicht und antwortete nicht.
»Morgen bringe ich dir Frühstück und ein paar Sachen, damit du dich nicht langweilst. Willst du ein Buch?«
Seine Frage schien nicht zu ihr durchzudringen.
»Ich bringe dir ein Buch mit, ein lustiges. Wenn du noch was brauchst, kannst du mich anrufen. Ich will morgen nach Neustrelitz zu Claire. Hab ich dir von ihr erzählt?«
Sophie sah auf, das Licht der einsamen Glühbirne grub tiefe Schatten in ihr Gesicht. Langsam schüttelte sie den Kopf, ein feuchter Glanz lag auf ihren Wangen. Sie weint, dachte Tom, weinen ist gut. Wann hatte er zum letzten Mal geweint? Als Kind wahrscheinlich. Da hatte er oft geweint. Nur entfernt erinnerte er sich, wie das gewesen war. Und er wollte auch keine Erinnerung, jetzt nicht. Nur in Claires Gegenwart waren die Erinnerungen in einem Strom über ihn hereingebrochen, und es war völlig in Ordnung gewesen. Sie kannten sich kaum, und
Weitere Kostenlose Bücher