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Freitags Tod

Freitags Tod

Titel: Freitags Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Kuhlmeyer
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dieser Gelassenheit kam. Schon morgens war er ausgeschlafen und mit einem guten Gefühl aufgestanden und das nach all den scheußlichen Telefonaten von gestern.
    Sogar Lilly hatte er angerufen und einen Stich in der Brust gespürt, als er ihre Stimme hörte. Sie war wie immer. Nein, sie sei nicht böse, sie habe auch furchtbar viel zu tun, und er solle sich melden, wenn er zurück sei. Dennoch hatte er ihren resignierten Unterton wahrgenommen. Ich bin ein Idiot, sagte er sich, und so eine Frau habe ich gar nicht verdient. Wenn er zurück wäre, würde er alles anders machen. Einmal auf »reset« drücken und neu starten. Wie oft hatte er sich das gewünscht? Aber das Leben ging einfach weiter, und nichts konnte von vorn begonnen werden. Natürlich nicht.
    Plötzlich hatte er das Bild von Freitags Leiche vor Augen. Nichts, gar nichts konnte neu begonnen werden. Das Leben musste weitergelebt werden, solange es noch in einem war. Ein Glockenschlag vom Kirchturm. Viertel nach elf oder viertel zwölf, wie man hier sagte. Und wie ging das Leben jetzt weiter? Conrad streckte sich, stand auf und verabschiedete sich von der Bank. Er hatte einen Entschluss gefasst.

Claire
    Ein Sperling ließ sich auf der Brüstung des Balkons nieder, der erste Sperling der neuen Zeitrechnung. Ich studierte sein Gefieder, bis er den Kopf neigte, mich mit einem Knopfauge anblinzelte und davonflog, in den frischen Morgen. Flügel müsste man haben! Als Punkt verschwand er hinter der Krone einer Eiche. Mit Flügeln wäre alles einfach. Schon lange wäre ich am Meer, hätte mir oberhalb der Steilküste ein Nest im Sanddorngebüsch gebaut. Aber ich hatte keine Flügel, nur ein und ein halbes Bein. Ich sah auf den Stumpf und dachte daran, wie ich mir die Zehennägel lackiert hatte. Wo mochten sie sein, meine lackierten Zehennägel? Meine Brust wurde eng und ich sah weg. Ich sollte nicht undankbar sein. Es hätte schlimmer kommen können. Das konnte man immer sagen, solange man noch am Leben war.
    Entgegen der Krankenhausordnung zog ich ein Päckchen Tabak aus der Bademanteltasche, drehte eine Zigarette und steckte sie an. Die ersten Züge fluteten mein Blut mit Nikotin und schwindelten in meinem Kopf. Mit einem leisen Geräusch fiel meine Zimmertür ins Schloss. Eilig drückte ich die Kippe aus und warf sie über die Brüstung. Aber es war nicht die gestrenge Schwester Hannelore mit den Schmerztabletten.
    »Tom.«
    Sein Gesicht war bleich unter der Bräune, das Haar zerzaust, er rang mit einem Lächeln, dann kniete er nieder und nahm mein Gesicht in seine Hände. Seine Lippen sanft wie Apfelblüten.
    »Claire«, sagte er gegen meinen Mund. Ein Schweißfilm, kalt und klebrig, bedeckte seine Haut.
    »Seit wann hast du nichts mehr genommen?«, fragte ich.
    »Ich weiß nicht, länger nicht. Die Bullen suchen nach mir.«
    Ich riss die Augen auf. »Was ist passiert?«
    Er erhob sich und winkte ab. »Eine lange Geschichte.«
    »Erzähl. Ich lauf dir schon nicht weg.« Ich versuchte ein Grinsen, aber es schmerzte.
    »Weißt du schon, wann du nach Hause kommst?«
    Nach Hause. Ich wendete das Wort in Gedanken.
    »Nein«, ich blickte zu der Eiche, hinter deren Krone der Sperling verschwunden war. »In vier, fünf Tagen wollen sie mich entlassen, haben sie gesagt.«
    Und dann? Wie weiter? Sicher, sie würden mich in irgendeine Rehabilitationsklinik für Amputierte schicken, dem Stumpf eine Prothese anpassen, und ich könnte gehen. Gehen. Wir wollten ans Meer, zu Fuß.
    »Weißt du noch …?« Mein Gesicht wurde nass. Soviel geheult hatte ich seit Jahren nicht mehr. Er nahm mich in den Arm.
    »Wir schaffen das schon, Claire.«
    »Das ist doch Blödsinn.« Ich entzog mich seiner Umarmung. »Es gibt kein wir . Und ich werde eine Lösung finden, das hab ich bislang immer.« Die Worte schmeckten bitter.
    »Hör auf.« Er stützte sich aufs Geländer. »Ich komme mit in deine Reha, ob es dir passt oder nicht. Ich quartiere mich in der Nähe der Klinik ein und warte, bis du heil bist. Weglaufen kannst du ja nicht, wie du schon richtig sagtest.«
    Bis ich heil bin. Die Tränen schnürten mir den Hals zu. Ich schluckte. »Klar, da werden die Bullen dich auch nicht finden. Was wollen die überhaupt von dir? Wegen der Drogen?«
    Tom lachte auf. »Mein Vater ist tot. Ermordet.«
    »Dein …« Mir verschlug es die Sprache. Auf dem Gang rollte der Essenswagen vorbei. »Das tut mir leid.«
    »Muss es nicht. Er ist es nicht wert. Ich weiß nicht, was dieser komische Kommissar

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