Freitags Tod
darauf gab er ihn mir zurück, mit den Worten: Lerne erst einmal richtig schreiben! Mit Rotstift waren Wörter durchgestrichen, Kommafehler angemerkt und Kommentare hinzugefügt. Ich zerriss den Brief und schrieb nie wieder einen einzigen Satz, bis heute nicht.« Sie warf einen Blick auf Julias Stiftablage.
»Von da an redete er wieder, zumindest das Nötigste. In einer Nacht, als Henry schrie und ich ihn nicht beruhigen konnte, schlug mich Gottfried so heftig, dass ich tagelang nicht aus dem Haus konnte. Was hätten die Leute gesagt, wenn sie mich mit dem geschwollenen Gesicht und dem Veilchen gesehen hätten? Damals hätte ich gehen sollen. Später schlug er nur noch an Stellen, die man nicht sah. Oder er fesselte mich in einen Bademantel und stellte mich unter die eiskalte Dusche.«
Julia fröstelte, automatisch schlug sie die Arme um sich.
»Einmal flüchtete ich zu meiner Mutter. Ich halte das nicht aus, sagte ich. Die ersten Jahre einer Ehe sind oft nicht einfach, versuchte sie, mich zu beruhigen, und: Das wird schon! Sie lächelte, und ich ging zurück zu Gottfried. Er sperrte mich mit Henry drei Tage im Keller ein. Henry war zwei. Später, zum Beispiel wenn Henry eine Drei aus der Schule nach Hause brachte, schlug Gottfried auch ihn. Der Junge müsse lernen, dass das Leben kein Spiel sei, sagte er. Als er dann endlich aufs Internat kam, war es besser für ihn. Ich konnte ihn ja nicht schützen, nicht immer.« Tränen traten in Hedwig Freitags Augen, kippten über den Lidrand und rollten langsam die Wangen hinab. »Er ist ein guter Junge, wissen Sie.«
Julia nickte. Vielleicht war er das, vielleicht war er aber auch ein Mörder. Julia wollte etwas sagen, nur fiel ihr nichts ein. Was sollte man schon sagen? Ja, ich verstehe Sie, verstehe, dass Sie Ihren Mann umgebracht haben, nachdem er Sie jahrelang gequält und gedemütigt hat? Warum haben Sie es eigentlich nicht sofort getan? Das war tatsächlich eine Frage, die sich Julia stellte. Warum hatte die Frau so lange bei diesem Dreckskerl ausgehalten? Das fragte sie sich jedes Mal, wenn sie so eine Geschichte hörte. Und sie hatte viele gehört, viel zu viele.
»Warum haben Sie ihn nicht verlassen?«, fragte Julia wider besseres Wissen. Eine Frage, die Verantwortung bedeutete.
Die Tränen versiegten, stattdessen zerfurchte Verzweiflung Hedwig Freitags Gesicht. »Sie machen sich keinen Begriff, wie oft ich mich das gefragt habe. Immer nachts, wenn ich nicht schlief und die Striemen von seinem Gürtel auf meinem Rücken brannten. Immer, wenn er den ersten Bissen vom Abendessen in den Mund schob und ich zitterte, was er sagen würde. Aber manchmal lächelte er, nickte und aß mit Appetit weiter. Dann war der Abend meist gerettet, manchmal auch nicht. Manchmal wurde es Nacht, und er kam in mein Bett. Ich wollte nicht, dass er in mein Bett kam. Ich wollte ihn nicht so nah bei mir haben. Ich wollte nicht …« Sie schüttelte sich. »Aber er tat es trotzdem. Lange habe ich es über mich ergehen lassen, habe meine Seele verschlossen und gewartet, bis er fertig war. Aber irgendwann konnte ich das nicht mehr. Ich weiß nicht, warum ich es nicht schaffte. Es hätte alles einfacher gemacht. Nach der ersten Vergewaltigung wurde Sophie geboren.« Sie sah in Richtung Fenster, aber ihr Blick kam dort nicht an, verlor sich zwischen den Möbeln, strandete im Nichts. »Sophie. Sie ist weg.«
»Weg?«
»Ich wollte sie nicht. Ich wollte keine Tochter. Auf gar keinen Fall wollte ich eine Tochter in diesem Haus haben. Als Kind war sie ein Sonnenschein, blond und zierlich und lachte jeden an. Mit zwölf hörte das auf. Mit dreizehn flog sie vom Gymnasium und jetzt … Na ja, Sie haben sie ja selbst gesehen. Ich weiß nicht, was mit dem Mädel los ist.«
»So? Wissen Sie das nicht? Sie haben nicht die leiseste Ahnung?« Julia war das so herausgerutscht. Sie wollte die Frau nicht quälen, nur dachte sie sich, was mit Sophie losgewesen sein könnte. Wieso wollte ihre Mutter das nicht wissen?
Hedwig Freitag senkte den Kopf, presste die Lippen aufeinander und schluchzte still. Nach einer ganzen Weile sagte sie: »Gottfried war ein schlechter Mensch.«
Damit schien alles gesagt zu sein. Julia lehnte sich zurück. Das reichte natürlich nicht, schon gar nicht, um den Mord zu erklären.
»Sie haben dreißig Jahre in einer Ehe gelebt, in der Sie Schlimmes ertragen mussten. Gerade deswegen stellen sich mir zwei Fragen. Die eine: Warum haben Sie sich nicht scheiden lassen?«
»Ja, wie
Weitere Kostenlose Bücher