Freitags Tod
Hause mit dieser Tussi aufgetaucht und später allein bei Tom. Wo ist Tom?
»Wir haben Tom Sebald in Haft genommen, Frau Freitag.«
Er hat mich gehört, denkt Sophie. Ich muss leiser denken, nicht mehr denken. Er geht wieder durch den Raum, dann nimmt er ihren Rucksack vom Feldbett. Das darf er nicht. Da ist Ko drin. Er darf Ko nicht anfassen. »Nein«, schreit sie. Böse fährt herum, aber Sophie ist schnell. Sie entreißt ihm den Rucksack und quetscht sich durch die Tür hinaus zum Bootssteg.
»Warten Sie. Nur ein paar Fragen, Frau Freitag.«
Keine Fragen. Die Stimmen in ihrem Kopf schreien durcheinander. Zehn Schritte noch, da liegt das Boot. Der Mann ist hinter ihr, holt sie ein, fasst ihren Arm.
»Bleiben Sie stehen! Ich will nur mit Ihnen reden, verdammt!«
Sie reißt sich los, springt ins Boot. Es wackelt und Sophies Welt gerät ins Wanken. Der See, die Büsche, der Himmel. Ko ist im Rucksack, im Boot, in Sicherheit. Sie bückt sich, greift nach dem Ruder. Der Schmerz pocht in ihrem Kopf. Links.
Und der Mann ist auch im Boot. Sie sieht, wie er die Lippen bewegt, hört ihn nicht. Er erwischt das Ruder, aber sie hält es fest. Sein Gesicht, seine Augen ganz nah. Sie stößt ihn mit aller Kraft von sich. Das Boot wankt. Der Mann stolpert, stürzt, stöhnt, bleibt liegen. Sophie hat das Ruder. Sie setzt sich zum Rucksack.
Atmet.
Der Mann hat die Augen geschlossen, bewegt sich nicht. Die Augen. Die Augen. Sie muss fort. Aber sie kann nicht. Da liegt der Mann. Das Boot steht endlich still, fast still. Der See schwankt kaum noch.
Sie atmet.
Vorsichtig steht sie auf, nimmt den Rucksack, steigt über die Bordwand ins Wasser. Es ist kalt. Sie steht bis zur Taille im See. Dann hievt sie sich zum Bootssteg hinauf. Wieder hört sie den Mann stöhnen. Aber sie dreht sich nicht um, läuft in den Schuppen, von da den Weg zur Anhöhe hinauf. Dort bleibt sie stehen. Es ist ganz still.
Was soll sie tun? Tom. Was ist mit Tom? Der Mann hat es gesagt. Wenn sie sich nur erinnerte. Dann fällt es ihr ein. Sie haben ihn eingesperrt. Aber warum? Langsam läuft sie weiter, biegt vom Weg ab, hockt sich hinter einen Busch. Ihr Kopf. Die Ameisen kribbeln wieder. Die Gedanken können sich nicht halten in ihrem Kopf, sie rasen heran und verschwinden. Ganz schnell. Sie kann sie nicht fassen. Nur die Stimme hört sie ganz deutlich. Nein, sie hört sie nicht, sie spürt sie. Du bist schlecht, sagt die Stimme. Das sagt sie immer. Und Sophie glaubt ihr. Du bist schuld, sagt die Stimme auch. Daran, dass Vater tot ist. Und daran, dass Tom weg ist.
»Wo ist Tom?«, fragt Sophie. Eingesperrt, sagt die Stimme. Und du bist schuld.
»Wo soll ich denn jetzt hin«, fragt Sophie. Die Stimme lacht, laut, ganz laut. Sophie hält sich die Ohren zu. Aber sie weiß, dass das nichts nützt. Sie weiß auch, was hilft, nimmt das Messer aus dem Rucksack und zieht die Klinge über ihren Unterarm. Schmerz, Blut. Die Stimme schweigt. Sophie atmet auf. Endlich sind alle weg. Die Gedanken, die Stimme. Die Sonne wärmt ihre Haut. Alles hat seinen Platz. Sophie sieht den Bullen den Weg heraufkommen. Er hält sich den Kopf. Dann ist er bei ihr.
»Geben Sie mir das Messer, Frau Freitag«, sagt er leise und lächelt schief. Er nimmt es ihr aus der Hand.
»Sie haben sich verletzt.«
Sophie sieht das Blut. Sie hat es wieder getan. Sie wollte es nicht mehr tun, nie mehr. Dann weint sie.
»Kommen Sie, Frau Freitag. In meinem Auto habe ich einen Verbandskasten.«
Sophie erhebt sich und geht zu dem Wagen, den sie erst jetzt hinter den Büschen entdeckt. Der Bulle öffnet die Beifahrertür.
»Setzen Sie sich.« Er sucht etwas im Kofferraum.
Sie könnte wegrennen. Aber wohin? Also bleibt sie. Der Kopfschmerz hämmert. Im Rucksack müsste eine Tablette sein. Sie geht nie ohne eine Tablette aus dem Haus. »Geben Sie mir meine Kopfschmerztabletten.«
Der Bulle greift nach dem Rucksack.
»Nein«, schreit sie. »Ich mach das selbst.« Die Tabletten sind im Seitenfach. Sophie nimmt eine und schiebt sie unter die Zunge.
Er stellt den Verbandskasten auf dem Armaturenbrett ab, tritt einen Schritt zurück und hebt die Hände.
»Was wollen Sie?«
»Erstmal Ihren Arm verbinden.« Seine Augen blicken sanft, besorgt. »Darf ich?«
Sophie nickt, und er tupft das Blut ab, wickelt eine Mullbinde um den Arm.
»Und jetzt?«, fragt er.
»Etwas zu essen. Haben Sie etwas?«
»Machen Sie das Handschuhfach auf, da ist ein Schokoriegel drin.«
Ein Schokoriegel und eine Flasche
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