Fremd fischen
ist alles okay.
Sie nimmt mein Jahrbuch vom Bett, kommt damit zur Couch und schlägt den Sport- und Gymnastikteil am Schluss auf. Damit wird sie sich jetzt stundenlang beschäftigen. Sie wird tausend Dinge finden, die sie kommentieren kann: Weißt du noch dieses? Weißt du noch jenes? Unser High-School-Jahrbuch wird ihr nie langweilig; sie erörtert die Vergangenheit und spekuliert, was wohl aus diesem oder jenem geworden sein mag, der nicht auf dem Klassentreffen erschienen ist, weil er entweder a) ein totaler Loser geworden ist oder weil b) das Gegenteil eingetreten und er so rasend erfolgreich ist, dass er gar keine Zeit hat, für ein Wochenende nach Indiana zu kommen (zu der Kategorie gehöre ich, sagt sie, denn natürlich musste ich an dem Wochenende arbeiten und war nicht da). Oder sie spielt eins ihrer Lieblingsspiele: Sie schlägt das Buch irgendwo auf, macht die Augen zu und wandert mit dem Zeigefinger auf der Seite umher, bis ich«Stopp»sage, und dann muss ich mit dem Typen, der ihrem Finger am nächsten ist, ins Bett gehen. Das sind klassische Darcy-Spielchen, und als unser Abschlussjahrbuch vor zwölf Jahren herauskam, haben sie einen Riesenspaß gemacht.
« Ach du meine Güte! Sieh dir das Haar an! Hast du jemals solche Ponyfransen gesehen?»Darcy schnappt nach Luft, als sie Laura Lindells Foto betrachtet.«Sie sieht so albern aus.»
Ich nicke zustimmend und warte auf ihr nächstes Opfer: Richard Meek. Aber jetzt ist sie nachsichtiger
mit ihm, als sie es in der zwölften Klasse war.«Nicht übel. Er ist irgendwie süß, nicht?»
« Irgendwie, ja. Hat ein nettes Lächeln. Aber weißt du noch, wie er beim Reden gespuckt hat?»
« Ja. Auch wieder wahr.»
Darcy blättert und blättert, bis sie schließlich keine Lust mehr hat. Sie wirft das Jahrbuch zur Seite und übernimmt die Kontrolle über die Fernbedienung. Sie zappt zu Harry und Sally und quietscht.«Es hat gerade erst angefangen! Ja!»
Wir lehnen uns beide auf meiner Couch zurück, strecken die Füße aus und schauen uns den Film an, den wir schon unzählige Male zusammen gesehen haben. Darcy schwatzt die ganze Zeit und spricht die Stellen mit, die sie kennt. Ich zische sie kein einziges Mal an. Sie sagt, es störe Dexter, wenn sie während des Films redet, aber mir macht es nichts aus. Nicht mal, wenn sie sich im Text irrt und ich nicht mitkriege, was Meg Ryan wirklich sagt. Das ist eben Darcy. So ist sie.
Und wie bei einem alten Lieblingsfilm gefällt dir bisweilen bei einer Freundin auch die zuverlässige Gleichförmigkeit am besten.
Am nächsten Abend ruft Darcy an, als ich gerade von der Arbeit nach Hause komme. Sie ist hysterisch. Ein kaltes, ruhiges Gefühl überkommt mich. Ist es so weit? Hat Dex ihr gesagt, dass die Hochzeit nicht stattfindet?
« Was ist los, Darcy?»Meine Stimme klingt gepresst
und unnatürlich, und in meinem Herzen tobt der Konflikt – die Liebe zu Dex gegen die Freundschaft mit Darcy. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst, obwohl ich nicht weiß, was das Schlimmste wäre: meine beste Freundin oder die Liebe meines Lebens zu verlieren. Beides wäre für mich unfassbar.
Darcy sagt etwas, was ich nicht verstehe, irgendetwas über ihren Ring.
« Was ist denn, Darce? Beruhige dich … Was ist mit deinem Ring?»
« Er ist weg!», schluchzt sie.
Es scheint kaum möglich zu sein, dass man den Boden unter den Füßen verliert und gleichzeitig ungeheure Erleichterung empfindet, aber genauso geht es mir, als ich begreife, dass es bei diesem Gespräch nur um ein verschwundenes Schmuckstück geht.«Wo hast du ihn denn verloren? Er ist doch versichert, oder?»
Ich stelle die Fragen, die eine verantwortungsbewusste Freundin stellt. Ich bin hilfsbereit. Aber es klingt mechanisch, was ich sage. Wenn sie nicht so hysterisch wäre, würde sie vielleicht merken, dass es mir völlig schnuppe ist, ob sie ihren Ring verlegt hat oder nicht. Ich sage ihr, dass sie unordentlich sei; wahrscheinlich hat sie ihn irgendwo hingelegt und dann vergessen.« Weißt du noch, wie du dachtest, er ist weg, und wie du ihn dann in einem Pantoffel gefunden hast? Du verlegst dauernd alles Mögliche, Darce.»
« Nein, diesmal ist es anders! Diesmal ist er weg! Er ist weg! Dex wird mich umbringen!»Ihre Stimme zittert.
Vielleicht nicht, denke ich. Vielleicht ist das die Gelegenheit, auf die er wartet. Und dann verabscheue ich mich selbst, weil ich so etwas denke.«Hast du es ihm schon gesagt?»
« Nein, noch nicht. Er ist noch im Büro …
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