Fremd fischen
entschieden hat, seine Hochzeit abzusagen, wird diese kleine Information ihn wahrscheinlich eher davon abbringen, Darcy zu heiraten. Zweitens: Ich liebe Dexter, und das bedeutet, dass ich bei meinen Entscheidungen vor allem seine Interessen im Auge behalten sollte. Somit möchte ich, dass er sämtliche Fakten kennt, wenn er einen für sein Leben wegweisenden Entschluss fasst. Und drittens befiehlt die Moral, dass er es erfährt; ich habe eine moralische Verpflichtung, Dexter die Wahrheit über Darcys Treiben zu sagen. (Dies ist zu unterscheiden vom Aspekt der Vergeltung, obwohl Darcy es verdient, ordentlich verpetzt zu werden.) Dazu kommt, dass ich die Institution der Ehe schätze und achte. Darcys Untreue kann ein Indikator für den langfristigen Erfolg und die Stabilität dieser Ehe sein. Dieser dritte Punkt hat nichts mit meinem Eigeninteresse zu tun, denn die Argumentation würde auch dann gelten, wenn ich Dex nicht liebte.
In der Logik von Punkt drei erscheint es indessen
ebenfalls folgerichtig, dass Darcy von Dex’ Untreue erfährt und dass ich meine Handlungen nicht vor ihr verbergen sollte (weil sie meine Freundin ist und mir vertraut und weil es Unrecht ist, jemanden zu betrügen). Daher ließe sich argumentieren, dass die Auffassung, Dex solle die Wahrheit über Darcy erfahren, in einem grundsätzlichen Widerspruch dazu steht, dass ich Darcy hinsichtlich meiner eigenen Vergehen absichtlich im Dunkeln lasse. Diese Argumentation lässt jedoch eine wesentliche Unterscheidung außer Acht, auf der meine abschließende Analyse beruht: Es ist ein Unterschied, ob man der Ansicht ist, dass jemand etwas wissen/erfahren sollte, oder ob man die Information selbst überbringt. Jawohl, ich finde, Dex sollte wissen, was Darcy getan hat und (vielleicht? wahrscheinlich?) weiterhin tut. Aber steht es mir zu, es ihm zu erzählen? Ich würde behaupten, es steht mir nicht zu.
Und weiter: Dex sollte Darcy zwar nicht heiraten, aber der Grund besteht weder darin, dass er sie oder sie ihn betrügt, noch darin, dass er mich liebt und ich ihn. Das alles trifft zwar zu, aber es sind lauter Symptome eines größeren Problems, nämlich ihrer mangelhaften Beziehung. Darcy und Dex passen nicht zueinander. Die Tatsache, dass sie sich gegenseitig betrügen – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven (hier Liebe, da eine egoistische Mischung aus Angst vor einer endgültigen Bindung und Lust) –, ist nur ein Indikator. Aber selbst wenn keiner den andern betrogen hätte, wäre die Beziehung falsch. Und wenn Darcy und Dex nicht fähig sind, diese essenzielle Tatsache auf der Grundlage ihrer Interaktion, ihrer Gefühle und der gemeinsamen Jahre zu erkennen, ist es ihre Sache, wenn sie einen Fehler begehen, und nicht meine, die Informantin zu spielen.
Und ich könnte noch eine Fußnote hinzufügen, vielleicht bei der Abwägung des moralischen Aspekts, in der ich auf den Verrat an Darcy eingehe – Ja, Darcys Geheimnis zu verraten, wäre Unrecht, aber im Licht meines sehr viel größeren Verrats an ihr erscheint die Weitergabe eines Geheimnisses kaum der Rede wert. Andererseits ließe sich die Ansicht vertreten, dass die Weitergabe des Geheimnisses schlimmer ist. Dass ich mit Dex schlafe, hat mit Darcy an sich nichts zu tun, aber wenn ich ihr Geheimnis verrate, hat das nur mit ihr zu tun. In Anbetracht dessen, dass ich letztendlich entschieden habe, es nicht zu verraten, ist Letzteres indessen gegenstandslos.
Also, das ist meine Antwort. Vielleicht ist meine Argumentation ein bisschen wacklig, vor allem zum Ende hin, wo sie mehr oder weniger auseinander fällt und ich im Grunde bloß sage:«Und überhaupt.»Ich sehe die roten Striche am Rand des blauen Heftes.« Unklar!»und«Warum ist es ihre Sache, wenn sie einen Fehler begehen? Bestrafen Sie die beiden wegen ihrer Dummheit oder wegen ihrer Untreue? Erläutern Sie!»
Aber ungeachtet meiner unzulänglichen Begründung und des Wissens, dass Ethan und Hillary mir wieder meine gewohnte Passivität vorwerfen würden, wird Dex von mir kein Wort über die Angelegenheit erfahren.
Am nächsten Tag komme ich aus der Firma, hole bei José meine Sachen aus der Reinigung ab, schaue in meinen Briefkasten und finde die Kabelfernsehrechnung von Time-Warner, die neue Ausgabe von In-Style und einen großen, elfenbeinfarbenen Umschlag mit kalligraphischer Anschrift und zwei herzförmigen Briefmarken. Ich weiß, was drin ist, bevor ich ihn umdrehe und sehe, dass er aus Indianapolis kommt.
Ich sage mir,
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