Fremd küssen. Roman
Sie sagt, ich solle einfach früher kommen, wenn das machbar sei. Heute ist so wenig Stress im Sender, das krieg ich hin. Außerdem kann ich dann früher in der Erichstraße sein.
Die Arbeit geht mir richtig gut von der Hand. Um 15 Uhr habe ich sogar einen Hauptsponsor für unseren Partyzug ergattert. Der wahnsinnige Mensch ist bereit, uns 10 000 Euro für die Veranstaltung zu geben. Wenn ich an diesen Zug denke, wird mir irgendwie mulmig. Einen Tag und eine Nacht lang zusammengepfercht wie die
Tiere auf engstem Raum durch Hessen gurken. Wenn da nichts schief geht. Entsetzt stelle ich mir vor, dass irgendwelche Hörer anfangen, sich zu streiten. Der Streit wird irgendwann so eskalieren, dass ein anderer Hörer Feuer legen wird. Der Zug wird dann brennen, aber der Zugführer bekommt nichts mit und fährt stoisch weiter seine Strecke. Ich sehe mich schon zwischen Kassel und Marburg bei 220 km/h mit Todesverachtung aus einem Abteil springen und im Unterholz landen.
Ach was, alles wird gut gehen. Man muss nur dran glauben.
Bei »NewStyle« läuft alles so weit glatt, davon mal abgesehen, dass ich mir ein bisschen blöd vorkomme, alleine in der Sprecherkabine zu sitzen und zu stöhnen. Die Frau Ihlenfeldt will zwar wissen, was denn los sei mit dem Herrn Waldenhagen und mir, aber ich sage nur, dass wir eine Meinungsverschiedenheit gehabt hätten und ich es für besser hielte, ihm vorerst nicht zu begegnen. Damit ist sie zwar nicht zufrieden, muss sich aber damit zufrieden geben, weil ich mehr nicht sage.
Gero holt mich vom Tonstudio ab. Richard und Pitbull erwarten uns in der Erichstraße. Ich wundere mich immer mehr über Richard. Vor gar nicht allzu langer Zeit hätte er niemals im Tageslicht seine Wohnung verlassen, ohne sich anzuziehen wie zu einer Polarexpedition. Aber heute trägt er nur ein T-Shirt und Jeans. Noch nicht mal Sonnenmilch. Und auch keine Frauenkleider. Ich frage ihn, was denn los wäre, und er meint, Pitbull hätte zu ihm gesagt, er sollte sich mal verhalten wie ein ganzer Mann. Aha. Mir liegen einige passende Antworten auf der Zunge, aber ich sage jetzt besser nichts und betrete mit den anderen unsere zukünftige Arbeits- und Wirkungsstätte. Ich habe den Eindruck, das Bauwerk ist seit unserem letzten Besuch noch mehr verfallen. Richards Augen strahlen allerdings, als er die Ruine besichtigt. Die Tatsache, dass Wände eingerissen und tonnenweise Schutt und Mörtel abtransportiert werden müssen, versetzt ihn in einen fast schon orgiastischen Zustand. Hundertmal fragt er, wann es denn endlich losgeht. Pitbull ist der festen Überzeugung, dass, wenn Pinki ihm die versprochenen Schwarzarbeiter besorgt und die übermorgen anfangen, wir in ungefähr drei Wochen mit dem Gröbsten fertig sein könnten. Drei Wochen? Drei Wochen lang müsste man hier erst mal lüften, um Menschen überhaupt zuzumuten, hier einen Handschlag zu machen, ohne dass ihre Lungenfunktionen versagen oder sie Hautausschläge vor lauter Ekel bekommen. Aber ich sage mal besser nichts.
Gero findet das Gebäude schrecklich. Ich merke es daran, dass er, seit wir hier sind, auf derselben Stelle stehen geblieben ist. Ich frage ihn schließlich, ob ich ihm mal die oberen Räume zeigen soll, aber er schüttelt nur den Kopf und sagt: »Ich habe Angst, dass der Boden dann durchbricht.« Die Angst ist irgendwie berechtigt, denn Pitbull und Richard gehen eben die Treppen hinauf und ihre Schritte lassen den Putz an der Wand leise hinunterbröseln. Besser gesagt, den Rest davon.
Der Kühlschrank steht übrigens immer noch am selben Platz. Mich juckt es in den Fingern, ihn endlich zu öffnen, aber ich traue mich nicht (der Käfer, der Käfer).
Plötzlich habe ich Angst vor meiner eigenen Courage. Ich muss darüber nachdenken, was wohl meine Mutter dazu sagen wird, wenn sie erfährt, was ich da vorhabe. Ich sehe meine Mutter mit ihrem unmöglichen Haarknoten in ihrem Lieblingssessel sitzen und von ihrer Klöppelstickerei aufblicken. Und dann höre ich den Satz: »Das hast DU also nötig. Ich dachte immer, ich hätte euch Kinder so aufgeklärt, dass so was nicht passieren muss.« Was gar nicht stimmt, denn eigentlich hat sie uns überhaupt nicht aufgeklärt.
Als ich mit dreizehn Jahren das erste Mal richtig verliebt war, hat meine Mutter bei den Eltern meiner Flamme angerufen und geschrien: »Glauben Sie mal bloß nicht, dass ich die Hochzeit alleine bezahle!« Um dann in mein Zimmer zu rennen und nach Kondomen zu suchen, die ich
Weitere Kostenlose Bücher