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Fremd küssen. Roman

Fremd küssen. Roman

Titel: Fremd küssen. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffi von Wolff
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gar nicht hatte. Die Luftballons, die sie gefunden hat, hielt sie mir unter die Nase und rief: »Ihr seid eine verdorbene Jugend! Farbige Präservative habe ich NIE benutzt.« Ich war ziemlich verwirrt, kannte ich doch weder das Wort »Präservativ«, noch wusste ich, was »verdorben« in diesem Zusammenhang bedeuten konnte. Verdorben war eine Fischsuppe, die drei Wochen lang auf dem Balkon in der glühenden Sommerhitze gestanden hatte.
    Nach meinem ersten Zungenkuss war ich der festen Überzeugung, etwas ganz schrecklich Verbotenes getan zu haben. Ich hatte ein derart schlechtes Gewissen, dass ich unseren Gemeindepfarrer anrief und darum bat, in ein Heim eingeliefert zu werden. Er konnte mich glücklicherweise einigermaßen beruhigen und dazu überreden, zu Hause zu bleiben.
    Meine Mutter hat das Wort Sex überhaupt nie auch nur gedacht, da bin ich mir ganz sicher. Wir Kinder haben uns immer gefragt, wie wir wohl zustande gekommen sind. Meine Halbschwester Nina behauptet, wir wären höchstwahrscheinlich alle aus Versehen adoptiert worden. Bestimmt hat sie Recht. Sicher sind meine wirklichen Eltern Amerikaner, die in Texas in einem Wohnwagenpark leben und sich zum Frühstück die ersten Dosen Bier aufmachen, die sie über Nacht im Waschbecken gekühlt haben, während sie melancholisch in die texanische Einöde starren. Meine richtige Mutter latscht einmal die Woche in einen dreißig Meilen entfernten Supermarkt, hat immer Lockenwickler in den Haaren und kommt mit Papiertüten in den Wohnwagenpark zurück, aus denen oben billige Schnapsflaschen ragen, während mein Vater mit einem Bierbauch auf einem Klappstuhl wartet und Johnny Cash hört. Aus Versehen wurde meine Mutter irgendwann schwanger und hat mich nach der Geburt vor einem Krankenhaus ausgesetzt. Ich bin dann nach Deutschland verschifft worden und meine Adoptiveltern haben mich, in eine karierte Decke gewickelt, mit nach Hause genommen. Bestimmt heiße ich deswegen auch Carolin. Ganz bestimmt. Irgendwann werde ich mal nach Texas fahren und meine Eltern suchen. Wenn sie mich denn sehen wollen.
    Gero hat sich bewegt! Er steht vor dem Kühlschrank! »Sag mal, was ist denn das für ein Uraltteil?«, fragt er mich. »Der hat ja Museumswert.« Ich bin plötzlich wieder ganz aufgeregt. »Wollen wir mal nachschauen, was drin ist?«, frage ich.
    »Klar«, antwortet Gero, »aber du machst auf.« Feigling.
    Oben laufen währenddessen Pitbull und Richard herum. Ein Balken direkt über uns ächzt gefährlich.
    Ich lege die Hand um den Griff und ziehe. Nichts passiert. »Er ist eingerostet«, sage ich zu Gero.
    »Ach, papperlapapp, zieh fester.«
    Ich kann ziehen, so fest ich will, aber die Tür lässt sich nicht öffnen. Mir wird bange. Höre ich im Innern nicht gerade jemanden um Hilfe rufen? Nein, das ist Richard, der glücklich darüber ist, dass sämtliche Wände vom Schimmelpilz befallen sind. Wir wollen unbedingt diesen Kühlschrank aufkriegen. Abwechselnd zerren und rütteln wir daran. Einmal kippt er fast um und auf Gero drauf, in letzter Sekunde kann ich das Malheur verhindern.
    Während wir wie Idioten an dem Griff ziehen, gibt es plötzlich ein schmatzendes Geräusch und die Tür fliegt mit einer solchen Wucht auf, dass wir beide hinfallen. Auf dem Boden liegend, starren wir in das Innere des Kühlschranks. Gero fängt laut an zu brüllen und ich mache nicht leiser mit. Aus dem Kühlschrank starrt uns ein Totenkopf an. Daneben liegen einzelne Knochen. Der Totenkopf sucht zu allem Überfluss auch noch Gesellschaft und kullert uns freundlich entgegen, die Zähne klaffen auseinander. Wären wir höfliche Menschen, würden wir ihn fragen, ob er hungrig ist und einen Keks möchte, aber wir sind zu nichts anderem in der Lage, als noch lauter zu brüllen, um dann mit letzter Kraft aufzustehen und orientierungslos in dem ehemaligen Schankraum herumzurennen und nach dem Ausgang zu suchen, den wir in unserer Panik nicht finden. Schließlich entdecke ich eine Tür, zerre Gero mit in ihre Richtung und reiße sie auf. Vor der Tür steht ein Mann. Er trägt schwarze Kleidung und hat einen Vorschlaghammer in der Hand, den er hebt, als er uns sieht. Mir wird schwindlig. Das war’s. Gleich werden Gero und ich in dem Kühlschrank liegen. Sauber zerteilt, nach Geschlechtern getrennt. Meine einzige Hoffnung ist die, dass man wenigstens unsere abgetrennten Köpfe nebeneinander stellen wird, damit wir uns die Zeit mit einer kleinen Unterhaltung vertreiben können.
     
    Zehn Minuten

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