Fremd küssen. Roman
ob ihn was bedrücken würde. Ich frage Frau Ihlenfeldt, ob sie ihn denn gefragt hätte, was ihn so Schlimmes bedrückt, aber sie verneint und meint, sie sei ein diskreter Mensch. Schade. Jedenfalls hat Herr Waldenhagen um 19 Uhr Termin und ich kann bereits um 15 Uhr kommen, was gut passt, da ich ja sowieso morgen noch einen Tag Urlaub habe. Und dann geht’s direkt nach Hamburg. Juhu!
Während ich durchs Treppenhaus laufe, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen, fällt mir ein, dass ich schon einige Tage nichts mehr von Frau Eichner gehört habe. Seit sie aus dem Krankenhaus zurück ist, war sie offensichtlich in meiner Wohnung – das merke ich daran, dass es sauber ist –, aber sonst kam kein Lebenszeichen von ihr. Ich klopfe einfach an ihre Tür, nachdem ich die Zeitung geholt habe.
Die Irmi Tschenscher aus dem Erdgeschoss öffnet mir und bittet mich herein, legt dabei allerdings die Finger an den Mund, was bedeutet, dass ich leise sein soll. Hat Frau Eichner sich immer noch nicht erholt von ihrem Sturz vom Dach? Nein. Sie sitzt putzmunter an ihrem runden Rokokotischchen und starrt auf ein Wasserglas, das umgedreht vor ihr steht. Dazu murmelt sie leise: »Meta, ich rufe dich. Meta, ich rufe dich.« Was ist denn hier schon wieder los?
»Hallo, Frau Eichner«, sage ich in Zimmerlautstärke. Frau Tschenscher hebt entsetzt die Hände. »Wolln Se de Geist Meta verjache?«, raunt sie mir zu. »Wenn es Meta komme soll, müsse mer all stille sein.« Ich blicke mich im Zimmer um, kann aber keine Anzeichen dafür entdecken, dass der Geist Meta im Anmarsch ist. Davon abgesehen sind alle Türen und Fenster geschlossen.
Frau Eichner wiegt ihren Oberkörper hin und her. Was soll das bloß? Hat Frau Tschenscher sie jetzt auf den Geisterbeschwörungstrip gebracht? Das ist ja nicht zu fassen. Ich sehe die arme Frau Eichner schon im strömenden Regen an einem eiskalten Novembertag am Anfang unserer Fußgängerzone stehen und den »Wachturm« verkaufen, während der Regen über ihre Hutkrempe läuft. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich so wenig Zeit habe, mich um sie zu kümmern. Andererseits ist sie ein erwachsener Mensch und muss selbst wissen, ob sie Geister rufen möchte, die Meta heißen. Ich verabschiede mich und gehe frühstücken.
19
Den Freitag bringe ich gut über die Runden. Keine nennenswerten Vorkommnisse, Pornosynchronisation erfolgreich zu Ende geführt, eine Rechnung geschrieben, kein Lebenszeichen von Marius oder Susanne, noch immer nicht nach einer Wohnung geschaut, noch mal in der Erichstraße gewesen mit Pitbull, die Renovierungsarbeiten haben begonnen und es sieht gut aus. Pinki geht Pitbull kurz an die Gurgel, nachdem er erfahren hat, dass
wir
nach Hamburg fahren und
ihn
nicht gefragt haben, ob er er gern mitwill. Ist nicht eskaliert, ich konnte schlichten, was zur Folge hat, dass wir jetzt zu acht in Richards altem VW -Bus sitzen, Dead or alive nicht mitgezählt, der zu unseren Füßen kauert und einen Maulkorb tragen muss, weil Iris Angst vor Hunden hat. Richard fährt. Er trägt Gummistiefel und einen Regenmantel, weil in Hamburg ja immer schlechtes Wetter ist. Weil Stiefel und Mantel aber rosa sind, sieht er aus wie ein überdimensionales Knallbonbon.
Kurz nachdem wir auf der A 5 sind, fangen wir an, Seemannslieder zu singen, und Pitbull holt ein uraltes Akkordeon aus der Versenkung seiner Reisetasche, mit dem er uns musikalisch fast perfekt begleitet. Bei Freddy Quinns »Junge, komm bald wieder« bin ich emotional am Ende. Schon als kleines Mädchen musste ich mir vorstellen, wie irgendein hagerer Fünfzehnjähriger mit Baskenmütze 1923 von seinem Vater wegen akutem Geldmangel gezwungen wurde, auf einen undichten Rahsegler zu steigen, um damit nach Guadeloupe zu schippern. Die Mannschaft war böse zu ihm und hänselte ihn, weil er nicht so kräftig war wie die anderen (wie denn auch, in der damaligen Zeit konnte man froh sein, ein Stück trockenes Brot auf der Straße zu finden), er musste regelmäßig zur Belustigung der Besatzung kielholen und überlebte immer nur knapp. Irgendwann trudelte er für kurze Zeit, völlig unterernährt und ohne Zähne, wieder in Cuxhaven oder Travemünde ein, und sein böser Vater nahm ihm sofort die Heuer ab, um ihn dann auf das nächste Boot zu verfrachten. Während das Schiff mit Getute dann den Hafen wieder verlässt, steht die Mutter weinend am Ufer und singt dieses Lied, bis sie ihren Sohn im Morgennebel aus den Augen verliert. Bei der
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