Fremd küssen. Roman
aus Angst, ICH könnte es sein und nach irgendeinem Weg fragen. Ich habe den Orientierungssinn eines toten Siebenschläfers. Der braucht nämlich keinen. Einmal war ich mit Freunden in Velden/Österreich und war morgens mit Brötchenholen dran. Dummerweise fuhr ich an der Bäckerei vorbei und landete auf der Autobahn. Es gab drei Spuren. Eine führte zurück nach Deutschland, eine nach Slowenien und eine nach Italien. Nach Deutschland zurück wollte ich nicht, wir waren ja gerade erst angekommen, nach Slowenien wollte ich auch nicht, weil dort bestimmt noch unentschärfte Bomben auf der Autobahn lagen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Strecke nach Italien zu fahren. Ich habe mich nicht getraut, von der Autobahn runterzufahren, aus Angst, mich noch mehr zu verfahren. Dummerweise hatte ich noch nicht mal ein Handy dabei. Mittags war ich dann mit dem letzten Tropfen Benzin in Italien und rief, schon längst heulend, vom Büro der Zollbeamten in der Ferienwohnung an. Alle hatten sich schon gewundert, wo ich so lange abgeblieben war. Aber Sorgen hatte sich keiner gemacht. Da ich aber Panik hatte, die ganze Strecke alleine zurückzufahren, haben mich die netten Zollbeamten gelotst. Gegen 18 Uhr war ich dann wieder zurück in Velden. Ohne Brötchen.
Man verachtet mich entweder für meine Orientierungslosigkeit oder aber sie ist ein immer wieder gern genommenes Gesprächsthema für gesellige Abende. Das Schlimmste: Wenn ich irgendjemanden anrufe, nachdem ich mich verfahren habe, und der- oder diejenige mich per Handy auf die richtige Strecke zurückbeordern soll und dann leicht sauer wird, wenn ich sie nicht gleich finde, gerate ich so in Panik, dass ich rechts mit links verwechsle, mich aber nicht traue, es zuzugeben. Der Einzige, der immer weiß, wo ich gerade bin, ist mein Kollege Bob. Das kommt daher, dass sein Hobby Straßenkarten-Zeichnen ist. Er fährt auch immer gern mal ins Blaue, einfach nur so, um zu schauen, welche Kanaldeckel in irgendeiner Stadt erneuert wurden oder ob es die Bürgermeister-Spitta-Allee in Bremen noch gibt. Bob lotst einen herrlich. Man muss nur sagen: »O mein Gott, Bob, ich stehe in Nordrhein-Westfalen an einer Brücke und weiß nicht, wo ich bin … hilf mir«, und er antwortet: »Hat die Brücke am Geländer von der geschlossenen Ortschaft her kommend nach ca. 100 Metern einen gut sichtbaren, länglichen, roten Kratzer und daneben hat jemand mit Graffitispray ›Fuck yo‹ hingeschrieben? Wenn ja, ist es die Unnataler Brücke und du befindest dich da und da. Wenn nein, ist es bestimmt die Münsterlandbrücke, aber nur, wenn hinter der Brücke gleich eine Eiche steht, in die ein Blitz eingeschlagen hat. Vor der Eiche steht eine Bank, auf der Lehne ist ein goldenes Schild befestigt und auf dem steht: ›Gestiftet von Hubert und Else Wurm.‹ Eine der Brücken ist es dann ganz bestimmt.«
Ich bekomme langsam Angst, vor allen Dingen, weil Iris sich mit irgendeinem Heini oder Knut darüber unterhält, was eine Viertelstunde bei ihr kostet. Die Damen des horizontalen Gewerbes, die die Straße besetzen, funkeln uns schon gefährlich an. Ich habe keine Lust auf Weibercatchen auf offener Straße.
Man könnte natürlich einfach jemanden fragen, aber uns kommen nur Betrunkene entgegen. Wer weiß, wo die uns hinschicken. Irgendwann habe ich die Vision, das Lübecker Holstentor zu sehen. Zum Glück erweist sich das als Irrtum. Tatsächlich sind wir am Flughafen Fuhlsbüttel, wo es glücklicherweise ein Taxi gibt, das uns zurück auf den Kiez bringt. Im »Goldenen Handschuh« ist leider niemand mehr, und als ich Pitbull auf dem Handy anrufe, erfahre ich, dass alle bereits im Hotel »Stadt Hamburg« sind und uns ein Zimmer mitreserviert haben. Das Hotel befindet sich genau um die Ecke der Kneipe. Es sind weniger als zehn Schritte zu laufen. Ich verachte mich.
Am nächsten Morgen ist Hardcore-Programm angesagt. Tom und ich gehen gemeinsam mit Iris und Domina-Ruth die Einkaufsliste durch und ergänzen das eine oder andere. Ruth kauft regelmäßig in Hamburg ihre SM -Sachen ein und kennt sich deswegen bestens aus. Unsere erste Station ist die Boutique »Bizarre«. Und da der Fetischbereich. Ei, schau mal einer an. Das ist ja das reinste Paradies. Der Herr Kamlade wie Schublade hätte seine wahre Freude, denn es gibt eine extra Baby-Abteilung. Das heißt, auf Kleiderstangen hängen Plastikwindelanzüge für Herren in Größe 52 , es gibt Schlabberlätzchen in der Größe von Saunatüchern
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