Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
Vom Netzwerk:
Sie sah ihn eindringlich an, aber mit offensichtlicher Gleichgültigkeit, als sei er ein Untersuchungsobjekt auf einem wissenschaftlichen Dia. »Du hast sie elendig scheitern lassen, weißt du das? Sie war immer eine Rebellin, einsam, die Fremde, hat mich vor der Opeinade gerettet, was sonst niemand in Aei getan hätte. Sie hatte das Potential, sich von hier zu befreien, aus diesem öden tödlichen Land, die Bräuche zu ignorieren, aus Shasine zu entkommen. Sie wäre nicht vollständig fortgegangen, denn trotz all ihres Widerstandes und ihrer Trotzigkeit hätte sie sich nicht so von den Bräuchen befreien können wie einige von uns, die weniger mutig waren als sie und es still und unauffällig taten, während sie vorgeblich gehorchten. Sie hat jemanden verdient, der ihr geholfen hätte, den ganzen Weg zu gehen. Statt dessen kamst du und hast sie wieder zurückgestoßen.«
    »Ich habe eure barbarischen Bräuche nicht erfunden, Schätzchen«, schnappte Farber unter rauhen Atemstößen. »Ich habe auch nicht gemerkt, daß du ihr geholfen hast, eh? Ich habe nicht mitbekommen, daß du ihr gesagt hast, sie solle fortgehen. Immerhin wußtest du über diesen ganzen Blödsinn Bescheid – und ich nicht. Nein, ich habe nur gemerkt, daß du getan hast, als seist du eine gute, loyale Frau wie alle anderen und ansonsten den Mund gehalten hast. Stimmt’s?«
    Tamarane blickte auf ihre Hände, ballte die Finger zusammen und löste sie wieder voneinander, und lange Zeit herrschte zwischen ihnen Schweigen.
    »Ich habe bei ihr auch versagt«, sagte sie schließlich. »Wir alle haben versagt. Sie selbst – sie hätte entkommen können, tat es aber nicht. Verdammt!« rief sie plötzlich in Terranisch. »Verdammt sei sie! Warum hat sie sich nicht durchgesetzt?« Ihre blitzenden schwarzen Augen durchbohrten Farber. »Und du sollst auch verdammt sein! Warum konntest du das nicht begreifen? Warum konntest du ihr nicht helfen? Und ich bin auch verdammt …« Ihre Augen verschwammen, wurden undurchsichtig, und eine neue lange Pause trat ein. »Es gibt zuviel Stille, zuviel Angst, zuviel In-den-Tag-hinein-leben, zuviel Den-Weg-des-geringsten-Widerstands-gehen. Nicht genügend Fragen, nicht genug Arbeit. Wir alle haben versagt, alle.«
    Sie nahm einen tiefen Zug aus Farbers Flasche, schüttelte sich und stand auf. »Ich gehe heute nacht zum Fluß hinunter«, sagte sie. »Werde in einem Eisboot nach Süden zu Katrine geschmuggelt wie Konterbande. Es gibt andere Orte auf dieser Welt außer Shasine, andere Städte als Aei, in denen man leben kann, selbst wenn die Schattenmenschen dies nicht für möglich halten. Das hättest du mit deiner Frau tun sollen, Erdenmensch – vor langer Zeit, ehe es zu spät war.«
    »Es ist nicht zu spät«, gab Farber hartnäckig zurück. »Es ist immer noch Zeit dafür, wenn ich es will, und vielleicht will ich es eines Tages. Keine schlechte Idee, wenn es auch hart sein wird, auf diesem elenden Planeten außerhalb des Einflusses von Shasine zu leben.« Er winkte Tamarane mit der Hand zu. »Du hast mich abgeschrieben, eh? Aber du liegst falsch. Ich werde Liraun schützen, mach dir darüber keine Sorgen – ich werde sie sogar vor sich selbst schützen, falls das nötig sein sollte. Nichts wird ihr geschehen, solange ich da bin.«
    Tamarane blickte ihn fragend an; harte, bittere Ironie kehrte zurück, als Schmerz und Schuld ihre Züge verließen. »Wenn dies vorbei ist, Erdenmensch, denk nur an eines – die Schattenmenschen könnten Liraun retten, wenn sie wollten. Sie könnten uns alle retten. Sie haben das Wissen, die Technologie. Aber in die Religion kann man sich nicht einmischen, oder? Und natürlich, die Feste sind so schön …« Sie zog eine Grimasse; ihr verzerrtes Gesicht wand sich in einem merkwürdigen Schmerz. »Wiedersehen, Erdenmann«, sagte sie. »Ich will dir nichts Böses, aber ich wünschte, du wärest dort geblieben, ich wünschte, du wärest dort gestorben – auf der Erde.«
    »Wiedersehen, Tamarane«, sagte Farber rauh, fast freundlich. »Das Leben in Shasine ist hart und wenig flexibel. Harte Dinge aber sind brüchig.« Sie lächelte. »Brüchiges bricht leicht.«
    Sie ging hinaus.
    Farber bestellte noch eine Flasche.
    Zum ersten Mal seit Monaten betrank er sich bis zur Bewußtlosigkeit.
    Als er am Morgen erwachte, fühlte er sich wie eine Leiche. Kein Teil seines Körpers schien richtig zu funktionieren. Der Cian, der ihn die ganze Nacht über in der Ecke hatte hocken lassen, starrte ihn

Weitere Kostenlose Bücher