Fremde
entgeistert an. Er starrte ohne Scham oder Interesse zurück. Der Wirt schlug mit vor Ekel erstarrtem Gesicht höflich vor, daß – da sein Haus bei weitem zu ärmlich sei, um ihn angemessen zu bewirten – Farber sich doch freundlicherweise zu einem anderen Gasthaus bemühen möge – mit den guten Wünschen des Wirts.
Hinaus in den hellen Morgen, verschwitzt und stinkend.
19
»Ich kann dir nicht helfen«, sagte Ferri. »Keane wird mich umbringen, wenn ich es tue.«
»Ich werde dich umbringen, wenn du es nicht tust«, versprach Farber.
Ferri blickte Farber von der Seite her an und spürte, wie alles Blut sein Gesicht verließ. In Farbers Stimme lag etwas, das er noch nie zuvor bei irgend jemandem gehört hatte. Ein Mensch, erschöpft, mit dem Rücken zur Wand, verzweifelt. Auch im Gesicht selbst war es zu erkennen: kalt und ausdruckslos wie eine Puppe, Augen wie zwei Bleiklumpen. Zusammengesackt saß er in einem Sessel, als sei er für jede Bewegung zu schwer. Aber genau jene Schwere war es, die sonderbar wirkte – der Instinkt sagte ihm, daß jedes Ding mit soviel Masse ungeheuer viel kinetische Energie besitzen müsse, wenn es sich schließlich regte, und der Berg würde bei einem Erdrutsch zusammenfallen. Ferri erkannte plötzlich, daß Farber sehr wohl in der Lage war, ihn zu töten, nicht so sehr aus Rage, sondern aus dumpfer, bitterer Hartnäckigkeit, weil Ferri den einzigen Weg versperrte, dem Farber noch folgen konnte, und der Mann hatte einfach nicht mehr die Energie, sich einen anderen zu suchen.
Nervös fuhr sich Ferri über die Lippen.
»Sieh mal, Joe«, sagte er mit einer Stimme, die so sachlich wie möglich klang, »die Sache, in die du da hineingeraten bist, der rituelle Mord an Müttern – das ist der fehlende Faktor in der sozialen Gleichstellung hier, und er erklärt eine Menge. Dein zweiter ›Lord Vrome‹ zum Beispiel. Selbst bei Mehrfachgeburten – und selbst dann, wenn die Mehrzahl der Kinder weiblichen Geschlechts sind – würde die Bevölkerung langsam und unvermeidlich aussterben, wenn sie die Mutter jedesmal dabei verlieren. Insbesondere auch deshalb, weil eine bestimmte Anzahl von Frauen unfruchtbar ist. Eine kleiner werdende Spirale. Bestimmte Individuen müssen sie klonen, um die Bevölkerung auf einem bestimmten Niveau zu halten. Langfristig gesehen genetisch unvernünftig, aber machbar – und wahrscheinlich auch ein Grund dafür, daß die Gesellschaft so statistisch ist.
Aber merkst du denn nicht, was für eine alles durchdringende Sache das ist? Es ist leicht, diese eine Sache in der gesamten Gesellschaft wiederholt zu sehen, in Kunst, Religion, den Häusern, allem. Die Inschrift auf der Säule. Erinnerst du dich? Jene, die du nicht lesen konntest. Sie lautete: ›Durch das Opfer leben‹, so wie ich es begriffen habe. Es gibt Hunderte solcher Dinge, die die ganze Zeit über vor deinen Augen geschehen, die beweisen – rückblickend –, daß der durchschnittliche Cian nicht nur die Morde an den Müttern akzeptiert, sondern auch bis in die Knochen hinein glaubt, daß es heilig ist. Es sind nicht nur die Schattenmenschen, welche Abneigung du auch immer ihnen gegenüber haben magst. Das kann man nicht sagen – wenn sie auch an erster Stelle für die Massenindoktrination verantwortlich sind, und das seit Jahrtausenden. Aber inzwischen ist es ein Faden, der sich durch ihre gesamte Kultur zieht.« Er blickte in Farbers Gesicht und dann schnell wieder beiseite. »Verdammt, siehst du denn nicht, wie schwierig es ist, in eine so engverwobene Tradition einzubrechen? Erinnere dich: Die Frauen akzeptierten es ebenfalls. Es ist ihnen heilig; für sie ist es sogar eine transzendentale Sache, ein Weg, eine Göttin zu werden, wenn auch nur für ein paar Monate. Und Liraun teilt alle Vorurteile und Werte ihrer Gesellschaft, das weißt du. Verdammt, ich habe dich gewarnt, mit diesen Leuten kein Spiel anzufangen. Du behandelst Liraun wie Madame Butterfly, aber das ist sie nicht – sie ist einer der Köpfe der Regierung von Shasine, Führerin einer ganzen Gesellschaft, und unter diesen Umständen eher eine Hohepriesterin als ein Opfer. Das mußt du einfach verstehen. Stell dich der Sache – es ist zu spät, irgend etwas zu verändern.«
»Es wird klappen«, sagte Farber. Sein Akzent kehrte wie immer unter extremer Belastung zurück, so daß er eigentlich sagte: »S’werd klappe«, wie ein Operettenschwabe. »Ich hatte letzte Nacht reichlich Zeit, darüber nachzudenken.«
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